Schaut auf dieses Dorf!
Das Origen Festival in Riom beeindruckt auch diesen Sommer mit Uraufführungen
Es gibt Menschen, deren Tage mehr als 24 Stunden zu haben scheinen. Dazu gehören der Intendant des Origen Festivals Giovanni Netzer und sein Team, die nach einem gefühlt gerade erst vergangenen Sommerfestival bereits seit Dezember und noch bis Ende März mit einem opulenten Winterprogramm aufwarten. Und dazu zählt auch Lucas Valente, der Tänzer beim Ballett Zürich ist, dessen Junior Ballett Ende dieser Woche im Rahmen eines dreiteiligen Programms eine Uraufführung von ihm präsentieren wird. Und der „nebenbei“ auch noch zeitgleich für eine Tänzerin und drei Tänzer (alle freischaffend und an unterschiedlichen Orten ansässig) das einstündige Tanztheater-Stück „Fast Nacht“ kreiert hat, das am vergangenen Sonntag in Riom Premiere hatte.
Es ist ein weiteres Werk Valentes, das bezeugt, dass seine Entscheidung, sich nach Ende dieser Spielzeit ganz dem Choreografieren zu widmen, keinerlei Bedenken hervorzurufen braucht. Für diese neue Arbeit hat sich der Brasilianer intensiv und akribisch mit den Bräuchen der fünften Jahreszeit in unterschiedlichen Kulturen befasst, ebenso wie mit der auf den Karneval folgenden Fastenzeit. „Fast Nacht“ lotet beide Pole, den des Exzesses und den der Einkehr, ungeheuer fantasievoll aus.
Maskierte Gestalten
Eine kreisrund markierte Fläche von etwa vier Meter Durchmesser auf dem Boden des Bühnenraums der Clavadeira, um den herum auf mehreren Stufen das Publikum sitzt, ist bedeckt von einer üppigen Schicht aus buntem Konfetti. Wiederum in dessen Mitte ein Lichtspot, in den zu dem portugiesischen Song „Mortal loucura“ die Tänzerin Giulia Esposito tritt, gleichermaßen fragil wie robust. Sie ist durchweg eine berührende und ausdrucksstarke Erscheinung.
Im vernebelten Dunkel tauchen mit Schellengeläut drei maskierte Gestalten (Paul Calderone, Louiz Rodrigues und Luca Seixas) auf – ein Auftakt zu einem ganzen Reigen von Figuren – Krähe, Kuh, ein übergroßer Kopf mit Zylinder – die Lucas Valente sich hier im Tanz begegnen lässt. Fast wie Alice im Wunderland wird Giulia Esposito in das Geschehen gezogen. Es entfaltet sich ein berührendes und beseelendes Spiel mit Rollen und Identitäten, karnevalesk, witzig, immer wieder auch etwas unheimlich. Gekleidet hat Christopher John Parker Tänzerin und Tänzer in farbenfrohe, auf abstrakte Weise folkloristisch anmutende Outfits, deren Sammelsurium an geschickt zusammengesetzten Streifen, Mustern und Karos bestens zu dem Treiben passen.
Surrealer Karneval
Wie alle Stücke von Lucas Valente bietet auch „Fast Nacht“ ein Füllhorn eindrücklicher Momente und Bilder, bei denen man sich wünscht, sie in ihrer vorbeitanzenden Flüchtigkeit festhalten zu können. Einer der besonders herausragenden und sehr theatralischen Momente ist das Erscheinen einer kopflosen Figur in langem gestreiftem Hemd mit zwei bunten indonesischen Maskenköpfen über den Händen. Zu dieser gesellt sich, mit zwei Schnabeltier-Handpuppen, ein nächster Tänzer, janusköpfig maskiert, gefolgt von dem dritten mit Geweihmasken, auch bei ihm fehlen die Handpuppen nicht.
Die drei Tänzer, multipliziert in eine Vielzahl Figuren und Kreaturen, lässt Lucas Valentes Choreografie sich in einem poetischen und surrealen Karneval in dem kleinen Rund immer wieder neu begegnen, beäugen und miteinander kokettieren. Eine berückende Gemengelage, in die auch noch Giulia Esposito mit zwei puscheligen Eulen eintaucht.
Allgemein und an einer Stelle besonders verdient das immer wieder für betörende Effekte sorgende Lichtdesign von Lukas Marian Erwähnung. Er lässt die perfekte Illusion einer Drehbühne entstehen, auf der die Vier sich mitsamt den tanzenden Lichtpunkten im Kreis bewegen.
Auf Fülle folgt Kargheit
Louiz Rodrigues fegt langsam das Konfetti aus dem Kreis. Auf die Fülle folgt die Kargheit. Luca Seixas, in dem Rund einen langen Stab so bewegend, dass dessen Schatten wie ein Uhrzeiger über den Boden läuft, leitet die Hinwendung zu Einkehr und Innehalten ein. Zu dem rätoromanischen Volkslied „Dorma, dorma, o Bambign“, das in vielen Wiederholungen gespielt wird, bringen Giulia Esposito und die drei Tänzer hier mit langsamen und verhaltenden Bewegungen Attribute der Fastenzeit zum Ausdruck: Besinnung, Kontemplation, Konzentration, Ritualhaftigkeit. Fast wie bei einem Mantra lassen Choreografie und Musik einen meditativen Sog entstehen, der vielleicht ein bisschen zu lange währt (oder einen mit dem eigenen Unvermögen konfrontiert, sich der Entschleunigung und der Fokussierung auf das Wesentliche hinzugeben).
Als man das Stück nach dem Ausklingen dieser Sequenz am Ende wähnt, folgt – wie nach Erwachen aus einem Traum – ein unerwarteter Bruch, der es bei Helligkeit und in ausgelassenem Beisammensein beschließt. Ein Fastenbrechen beim Ploppen von Bügelverschlüssen.
„Fast Nacht“ zeigt, wie schön, überraschend und vielschichtig Tanztheater sein kann. Das Werk ist in dieser und der kommenden Woche noch fünf Mal in der Clavadeira von Riom zu sehen.
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