„Serum“ von Andrey Kaydanovskiy

Turmhohes Niveau

Ausklang des Origen Tanzfestivals

Andrey Kaydanovskiys Schneewittchen liegt auf der Intensivstation. Sébastien Bertaud lässt eine Mondprinzessin in der Scheune auf Spitze tanzen. Und getanzt wird auch in „La Torre“, dem Freilichtspiel vor dem höchsten 3D-gedruckten Turm der Welt.

Riom, 13/08/2025

In Riom klang vor wenigen Tagen mit neuen Werken von Andrey Kaydanovsky und Sébastien Bertaud das Origen Tanzfestival 2025 aus – nach vier Wochen mit acht Uraufführungen und 32 Vorstellungen. Ein doppelter Schlusspunkt von (erneut) sehr hohem Niveau und mit immer wieder völlig unterschiedlich ausgestalteter Interpretation des „Märchen“-Themas. Auffallend war allerdings die Textlastigkeit in fast allen der diesjährigen Stücke.


Schneewittchen auf der Intensivstation

„Serum“, Andrey Kaydanovskiys fünftes Stück für Origen, uraufgeführt in der Burg Riom, ist mit ihm selbst sowie Rebecca Horner, Joni Österlund, Rebekka Pichler und Mila Schmidt ein theatrales und eindrückliches Werk mit grotesk-schauerlichen Elementen, das auch von gesprochenem Text entscheidend mitgetragen wird. 

Ein weißes Kleid auf dem Boden ist Reminiszenz an seine Trägerin, deutet an, dass dieses Schneewittchen da und doch nicht da ist. Es liegt im Koma; das Piepsen der Geräte einer Intensivstation mogelt sich reindringlich durch die Sounddecke (Musik / Sounddesign Christian Düchtel aka Randomhype), Dazu immer wieder die Stimme einer Ärztin, die vielleicht oder vielleicht auch nicht in Schneewittchens Unterbewusstsein dringt, und nicht nur medizinische Maßnahmen ankündigt, sondern auch ein Apfelkuchenrezept vorliest. Das Stück hat halluzinatorischen Charakter, mit großartigen und soghaften Sequenzen (wie cool, wie spannend choreografiert Kaynadovskiy mit organischer Stakkatohaftigkeit bodennah zu Trommelwirbeln!), es lässt immer wieder etwas gruseln, wenn mit fratzenhaften Visagen und bohrenden Farblinsen-Blicken die inneren Figuren durch Schneewittchens Nahtod-Erfahrung tanzen. Am Ende des Stücks kullern viele Äpfel über den Bühnenboden. Können sie vergiftet sein, wenn das rezitierte Rezept so verlockend klingt?  


Andere Sphären 

Für „Ad Astra“, sein siebtes Stück für Origen, hat Sébastien Bertaud mit Naïs Duboscq, Pablo Legasa, Alexander Maryianowski und Daniel Stokes eine kleine, herausragende Delegation des Balletts der Pariser Oper in die Clavadeira gebracht, die seine von der japanischen Legende der Mondprinzessin „Kaguya-hime“ inspirierte Choreografie glänzend interpretiert. Die große klassische Schule ist sehr präsent – allein schon die Arme zu sehen, ist eine Wonne. Im ersten Solo noch barfuß und in edlem Kimono (Kostüme Atelier Pariser Oper) tanzt Mondprinzessin Naïs Duboscq später auf Spitze. Ihre Soli, die Trios der drei Herren, ihr Duett mit Pablo Legasa – alles wirkt in der Tat wie aus anderen Sphären. „Ad Astra“ ist ein Stück von exquisiter, purer Schönheit. 


Turm aus dem 3D-Drucker als Kulisse für Theater

Einen Ausflug etwa 15 Minuten die Passstraße hinauf sollte man sich nicht entgehen lassen. Im Mai wurde im winzigen Dorf Mulegns der filigran-imposante Weiße Turm eröffnet. Initiiert von der Kulturstiftung Nova Fundaziun Origen in Zusammenarbeit mit der ETH Zürich ist es das höchste 3D-gedruckte Bauwerk der Welt. Daneben das aufwendig renovierte Hotel Löwe, in dessen Räumen das opulente Textildesign von Martin Leuthold eigene Geschichten erzählt, und die Weiße Villa aus dem 18. Jahrhundert, in der nach Restaurierung der Bündner Zuckerbäcker-Tradition gehuldigt werden soll. Die Rettung der historischen Bausubstanz durch die Nova Fundaziun Origen und das Weiterdenken der Nutzung bedeuteten einen steten Tanz zwischen kühnen Visionen, konkreter Planung und Finanzierung. 


Unter freiem Himmel

Seit Anfang Juli und noch bis Ende dieser Woche wird auf einer hölzernen Bühne vor dem Weißen Turm das Freilichtspiel „La Torre“ gezeigt. Geschrieben und inszeniert von Origen Intendant Giovanni Netzer erzählt es die Geschichte (Sprecher Louis Friedemann Thiele) um die Familie eines genuesischen Zuckerbarons, und wird tänzerisch und schauspielerisch eindrucksvoll dargestellt von sieben professionellen Tänzer*innen (Borja Bermúdez, Yaiza Coll, Marc Jubete, Júlia Martí Gasull, Yun Su Park, und Lizhong Wang – alle ehemals beim Hamburg Ballett – und Alex Vazquez Gala) und fünf Laiendarsteller*innen. In der Handlung spielt natürlich ein Turm eine Rolle, auf den der älteste Sohn und Erbe des Zucker-Imperiums (Bermúdez) auf Rat einer mysteriösen Ärztin (Coll) verbannt wird. Von der Zuschauertribüne aus sieht man ihn immer wieder auf der Wendeltreppe und der obersten Plattform des in wechselnden Farben stimmungsvoll beleuchteten Turmes (Lukas Marian), während unten auf der Bühne seine Abwesenheit die Familien- und Firmenbande zerrüttet. Doch die Geschichte nimmt, wie zu erwarten, ein versöhnliches Ende. Erzählung, Tanz und Kostüme (Martin Leuthold und Atelier pôss) wecken kindlich-kribbelige Freude. Und vor der Kulisse des Weißen Turmes und den Bergen mit changierendem Abendlicht auf ihren Gipfeln ist dieses Theaterstück auch ganz großes Kino. 

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