„Legenda Nova“ von Kristian Lever

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Start des Origen Tanzfestivals 2025

Gesprochener Text ist ein wichtiges Element in Uraufführungen von Luca-Andrea Tessarini und Kristian Lever. Und doch könnten beide Werke kaum gegensätzlicher sein. Dämonenhafte Schatten und eine pinkfarbene ChatGPT-Inkarnation erobern Rioms kleine Bühnen.

Riom, 20/07/2025

Das Origen Festival präsentiert wie jeden Sommer ein dichtes Tanzprogramm. In Riom sind noch bis 10. August 2025 jede Woche zwei Uraufführungen zu sehen. Wie immer gibt Intendant Giovanni Netzer den Choreograf*innen ein Motto vor; „Märchen“ lautet es in diesem Jahr. In der rätoromanischen Kultur spielen diese, lange nur mündlich tradiert, eine große Rolle. Das Eintauchen in Geschichten beim Beisammensein in der Stube findet eine passende Entsprechung bei den Aufführungen in Origens intimen Spielstätten.

Luca-Andrea Tessarini hat mit „Vandalismo“ sein mittlerweile siebtes Werk für Origen konzipiert, in dem er auch selbst tanzt. Noch vor Kurzem standen er, Isla Clarke, Barry Gans, Ricardo Hartley III., Omani Omskirk und Kele Roberson mit dem Nederlands Dans Theater 1, dem alle sechs angehören, bei einem Gastspiel vor 1800 Zuschauer*innen auf der der riesigen Bühne der Deutschen Oper in Berlin. Nun darf man sie hier in der kleinen Clavadeira aus nächster Nähe erleben. Ein mikroskopischer Einblick in die hohe Schule des zeitgenössischen Tanzes.

Rätselhafter Raum

Viele Zeitungsblätter bedecken die Fenster, machen die Außenwelt präsent und scheinen gleichzeitig von ihr abzuschotten. Das Licht ist düster, das Ambiente unheimlich, eine Erzählerstimme flüstert, einzelne Worte wie „Schatten“ bleiben haften. Ein Versteck, ein innerer Ort?

Der Erzähler Daniel Schwan lässt sich im Schneidersitz nieder, sein verrätselter Text (verfasst von Tessarini) verstärkt das Unbehagen. Die sechs Tänzer*innen schwarzen Morphsuits gönnen ihm kein Entkommen, verweben seinen inneren Dialog mit ihren Bewegungen. Dämonenhafte Schatten, gleichermaßen vereint wie fragmentiert.

Einen pulsierenden Schub erhält das Werk, als alle sechs in weißen Hemden sich in variierenden Reihen bewegen, geschickt bedenkt die Choreografie nicht nur hier den Raum, an dem Publikum von allen vier Seiten zuschaut. Eine wohltuend energiegeladene Sequenz, an deren Ende alle taumelnd zu Boden fallen. Der Erzähler verwirbelt im roten Licht Theaternebel: „Ich hab' mir etwas ausgedacht, ein Raum ganz ohne Pein [...] / Ich bau uns eine neue Stadt, aus Schatten und aus Stein“. Die Tänzer*innen zeichnen direkt vor den Füßen des Publikums mit Kreidestiften einen quadratischen Raum, der immer enger wird.

Beklemmung und Bewunderung

Die Musik (Samuel van der Veer) pusht soghaft, gelegentlich auch zermürbend, das dystopische Geschehen. Die Bewegungen sind oft bodennah, imaginäre Mauern ertastend, innere Bedrängnis ausstrahlend. In Soli, Duetten und Gruppenszenen integrieren die Sechs die vertracktesten Abläufe in ihre Körper, noch in den reduziertesten Bewegungen zeigt sich ihre phänomenale Körperbeherrschung. 

Ein schwarzer Schatten hebt Kele Roberson in die völlige Dunkelheit. „Es gibt so viel Schmerz in dieser Welt, aber nicht in diesem Raum, nicht hier, nicht heute“, sind die letzten Worte. Hoffnung, Verwandlung, Utopie? Tessarini serviert mit „Vandalismo“ schwere Kost. Sein Stück hinterlässt Fragezeichen und nicht so schnell abzuschüttelnde Beklommenheit. Durch die eigenen Gedanken tanzen die Schatten noch weiter.

Leichtere Kost am Folgetag

Einen Kontrapunkt setzt die zweite Vorstellung von Kristian Levers „Legenda Nova“ in der Burg Riom. Bereits 2020 war der finnisch-britische Choreograf Gast bei Origen. Gesprochener (englischer) Text, von Lever verfasst, ist hier noch mehr als in „Vandalismo“ ein tragendes Element. 

Mit schrägem Humor hat Kristian Lever ein episodenhaftes, vergnügliches und verspieltes Werk geschaffen, das definitiv auch geeignet ist für ein junges Publikum. Ein Schriftsteller (Morgan Taylor Lugo) leidet an einem akuten „creative block“, starrt bebrillt und verzweifelt auf seinen Bildschirm. Seine inneren Stimmen (gekonntes Lip Synching und witziges Gestikulieren von Adrien Delépine, TJ Firmin und Vilim Poljanec) trichtern ihm nerdig-penetrant ein, dass er ein armseliges Würstchen sei.

In seiner Not wendet er sich an die KI ein, die ihm als charmantes Wesen in pinkfarbenem Regenmantel und Perücke (Georgina Hills) Inspirationen gibt. Alle vorgeschlagenen Varianten entfalten sich in der Choreografie, die Fünf geben alles. In ständig neuen Outfits wird eine Schlacht gekämpft, zu Popmusik abgehottet, Voguing und ein kitschiges Duett fehlen auch nicht. Georgina Hills wechselt virtuos und rasant immer wieder vom statisch-roboterhaften Lip Synching zum Tanz.

Bei einem so kurzweiligen Werk darf das Happy End nicht fehlen. Der Schriftsteller schickt die pikierten inneren Kritiker in die Walachei, trennt sich von seiner geläuterten KI-Kumpanin, haut beflügelt in die Tasten. Und wenn er nicht gestorben ist, dann schreibt er noch heute Märchen.

 

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