Turmhohes Niveau
Ausklang des Origen Tanzfestivals
Auch zur Halbzeit des diesjährigen Origen Tanzfestivals zeigt sich erneut, wie spannend die künstlerische Bandbreite ist, die hier offeriert wird. Diese Woche wartet mit der einzigen Choreografin der diesjährigen Ausgabe auf. Die aus dem australischen Adelaide stammende Nicola Wills tanzte bis Beginn des Jahres beim Royal Ballet of Flanders und ist nun freischaffend tätig. Während ihrer Zeit als Tänzerin absolvierte sie zudem ein Psychologie-Studium und schuf bereits diverse Choreografien. Bei Origen ist sie erstmalig Gast. Mit „Fiction“ in der Clavadeira von Riom hat sie das erste Mal ein Werk in der Schweiz kreiert. Und ein beeindruckendes dazu.
Die dunklen Seiten der Märchen
Das Thema des Sommerfestivals – „Märchen“ – setzt sie mit den großartigen Tänzer*innen Lara Fransen, Matthew Johnson, David Ledger, Philipe Lens, Allison McGuire (alle vom Royal Ballet of Flanders) düster-irrlichternd und absolut fesselnd um. Erzählerisch fokussiert sich Wills auf die tiefenpsychologischen Lesarten der Märchen, und transportiert diese in eine Choreografie, die genauso komplex ist wie die Erzähl- und Gefühlsebenen. Sie geht ein organisches Ganzes ein mit der kongenialen Komposition von Adam Vincent Clarke. Auch visuell (Lichtdesign: Lukas Marian) macht das Werk viel her.
In Kostümen von Isabella Heymann geben sich Märchenfiguren ein immer wieder verstörendes Stelldichein. Es wird sofort klar, dass es hier um Abgründe geht. Geradezu wie in einer Geisterbahn beginnt das Stück in Dunkelheit. Schreie und mysteriöses Poltern im Hintergrund, bis sich langsam Figuren aus düsterem Licht schälen. Rotkäppchen und der Wolf, Hänsel und Gretel, Hans und die Bohnenranke („Jack and the Beanstalk“, im englischsprachigen Raum ein sehr bekanntes Märchen), der Rattenfänger von Hameln – Wills lässt sie als kollektive Allegorie die Abgründe der Märchenwelt ausloten.
Die in Psychologie und Literaturwissenschaft vielfach analysierte Symbolik von Gewalt und Sexualität in «Rotkäppchen» deutet ein Duett von Lara Fransen und David Ledger in einer ausgeklügelten Kombination aus Subtilität und Deutlichkeit an, die schaudern lässt. Doch in „Fiction“ sind alle Figuren mal Opfer, mal Täter. Wills ist fasziniert von der Grauzone zwischen Gut und Böse, Normalität und Abnormalität, in der Protagonisten zu Antagonisten werden und umgekehrt.
Vielschichtig auf allen Ebenen
Die Choreografie ist detailreich und herausfordernd. Nur schon der Weg vom Boden in die Horizontale ist hier ein raffinierter. Es gibt viel zu entdecken, man würde immer wieder gerne die Wiederholungstaste drücken. Die Choreografie hat, wie Wills es selbst beschreibt, einen somatischen Ansatz, die Emotionen manifestieren sich auf sehr viszerale Weise in den Körpern. Besonders eindrücklich eine Szene, in der David Ledger sich, getrieben von unwillkürlich wirkenden, aber exakt ziselierten Bewegungen, in den Irrsinn tanzt. Der Satz „Under the bed, the shadows spread“, verwebt in die Musikkomposition, bleibt wie ein inneres Echo.
Ähnlich wie in (Alb)Träumen Räume diffus erscheinen können, scheint „Fiction“ mit seiner vielschichtigen Fülle vielfach die Begrenzung des kleinen Theaterraums zu transzendieren. Ein beachtliches Werk, mit stehendem Applaus bedacht. Vor einigen Jahren wurde Nicola Wills bei einer Kritiker-Umfrage von „Dance Europe“ in der Kategorie „New Name to Watch“ nominiert. Hier sei hinzugefügt: „A name to keep watching out for“.
Pure Ästhetik und klassisches Können
Am Freitag war die zweite Vorstellung von Ilia Jivoys „Three Sisters“ in der Burg Riom zu sehen. In Barcelona ansässig, ist Jivoy (der nach Kriegsausbruch seine russische Heimat verlassen hat) ein Choreograf, dessen Werk seine Prägung durch die Waganova- Akademie und das Mariinsky-Theater nicht verhehlen kann. Ein kostbares Fundament.
Jivoy erzählt zu Schuberts „Der Tod und das Mädchen“ mit Eleganz, großem Sinn für Ästhetik (beides zeigt sich auch in den Kostümen von Sonia Vartanian) und mit klarer Linearität eine rätoromanische Legende, in der drei Schwestern nach einem Pakt mit dem Teufel (den er selbst tanzt) ein entsetzliches Schicksal erleiden. Vor Beginn verwickeln die drei Damen (Júlia Martí-Gasull, Iria Ramirez Lafuente, Anna Soller Canet) aber erstmal Zuschauer*innen in ratsuchende Plaudereien über ihre Liebhaber (Dominic Harrison, Massimo Margaria, Ciro Tamayo). Eine kleine Augenzwinkerei, ebenso wie das unerwartet ausgestoßene „F-Wort“ an späterer Stelle.
„Three Sisters“ entfaltet sich in den Burgmauern zu einer Augenweide, ist ungeheuer gekonnt (fast ist man versucht zu sagen teuflisch gut), leidenschaftlich und rasant getanzt, transportiert wirkungsvoll die Geschichte. Auch hier große Begeisterung im Publikum.
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