„What Is War“ von und mit Wen Hui und Eiko Otake

„Rinse“ von und mit Amrita Hepi und Mish Grigor

Gewalt des Anfangs

„What is War“ und „Rinse“ beim Tanzfestival Rhein-Main

Die beiden weiblichen Duos – Hui/Otake und Hepi/Grigor – untersuchen bei der 10. Ausgabe des Festivals die politische Dimension des Tanzes und befragen das Verhältnis ihrer Körper zur Geschichte auf kluge Weise.

Frankfurt, 18/11/2025

Von Paul Koloseus

Am letzten Sonntag ging die zehnte Ausgabe des Tanzfestivals Rhein-Main unter dem Motto „Now or Never“ mit einem Publikumsrekord zu Ende. Über zweieinhalb Wochen bespielten die Staatstheater Darmstadt und Wiesbaden, das Hessische Staatsballett sowie das Frankfurter Künstler*innenhaus Mousonturm insgesamt neun Spielstätten in der Region mit einem vielfältigen Programm, das sich dem Moment des Anfangs und seinen positiven wie negativen Verheißungen verschrieben hat. Zwei Arbeiten stachen besonders hervor: Wen Huis und Eiko Otakes „What is War“ sowie Amrita Hepis und Mish Grigors „Rinse“ machten jeweils auf radikale Weise deutlich, wie politisch Tanz sein kann. 

Atomare Einschreibungen 

Die Performance „What is war“ von Wen Hui und Eiko Otake, die am 11. April 2025 am Walker Art Centre, Minneapolis Premiere feierte und im Mousonturm in deutscher Erstaufführung zu sehen war, beginnt mit einem auf die Rückwand der Bühne projizierten Dialog der Künstlerinnen. Darin ergänzen sie die titelgebende Frage um eine weitere: „How close is your body to war?“ Vor dem Hintergrund des zweiten Japanisch-Chinesischen Kriegs von 1937 bis 1945 messen Hui/Otake choreografisch nach. Beide haben den Krieg zwar nicht selbst miterlebt, er hat sich jedoch in ihre Familiengeschichten und Körper eingeschrieben. Wie zwei Archäologinnen suchen sie in sich nach Spuren dieser Gewalt, die erst mit dem Abwurf zweier Atombomben über Hiroshima und Nagasaki endete.

In ihrer dokumentarischen Choreografie verweben sie die Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern über den Krieg mit eigenen Recherchen. Dabei greifen sie immer wieder auf Video- und Fotomaterial zurück, das den Bühnenraum erweitert. Das gefilmte Material evoziert die Vergangenheit und Otake geht mehrfach in die Projektionen ein, verschwindet in ihnen wie ein Gespenst: die Bühne als Kreuzungs- und Schnittpunkt von Gegenwart und Vergangenheit. Ein besonderes Augenmerk legt das Duo auf die sogenannten ‚Trostfrauen‘: Chinesinnen, die von der japanischen Besatzungsmacht verschleppt und zur Sexarbeit gezwungen wurden. Dass Otake Japanerin und Hui Chinesin ist, erlaubt ihnen, den historischen Konflikt affektiv auf ihre persönliche Beziehung zu übertragen und in ihrer Freundschaft und Zusammenarbeit durch Schmerz, Wut und Trauer hindurch Möglichkeiten der Versöhnung zu suchen. 

Tänzerisch nähert sich Otake den Geistern der Vergangenheit in langsamen, an Butoh erinnernden Bewegungen. Sie wirken vorsichtig, bedacht und gebrechlich. Hui markiert einen gewissen Gegensatz: sie tanzt zitternd, hektisch, rennt über die Bühne. Circa nach der Hälfte der Arbeit steht Otake nackt am vorderen Bühnenrand, von einem hellen Scheinwerfer brüsk angestrahlt. Sie zeigt ihren 73-jährigen Körper, um nichts unsichtbar zu lassen und auch die dunklen Ecken der Vergangenheit auszuleuchten. Nachdem Hui ihr fürsorglich ein symbolträchtiges weißes Kleid reicht, tanzen beide ein Duett, in dem sie sich aufrichten und fallen, halten und loslassen, aneinander ziehen und zerren. Ihre Bewegungen bleiben ambivalent und spannungsgeladen, erinnern manchmal an Zärtlichkeit, manchmal an eine Jagdszene. Ein Tanz zwischen Gnade und Gewalt, zwischen Vergebung und Zorn. 

In einer sehr bildhaften Szene gegen Ende beschreiben die beiden ihre Körper jeweils gegenseitig mit chinesischen bzw. japanischen Schriftzeichen und sprechen dabei in lautem, vorwurfsvollem Ton. Das im ersten Moment offensichtlich anmutende Beschreiben von tanzenden Körpern (Was anderes ist Choreografie?), die Einschreibung von Geschichte(n) in sie, entzieht sich durch die Fremdheit der Sprachen doch wieder. Welche Vorwürfe sie sich machen, ob es überhaupt welche sind, bleibt für die meisten im Saal offen. Wenn Hui und Otake am Schluss die Tribüne hochgehen und abwechselnd monologisch zum Publikum sprechen, sind wir wieder am Anfang angelangt: die Gegenwart hat die Vergangenheit eingeholt. 

Zurück zum Ursprung

Auf ganz andere Weise spüren Amrita Hepi und Mish Grigor in der Performance „Rinse“, 2022 beim Liveworks Festival of Experimental Art in Sidney uraufgeführt, dem Moment des Anfangs und seiner inhärenten Gewalt nach. Zwar ist auch hier die Biografie ein Anhaltspunkt, von dem aus sich die Frage des Anfangs entwickeln lässt. Hepis Verwurzelung in der Aborigine- und Maori-Kultur Australiens und Neuseelands weist jedoch über ihre eigene Lebensgeschichte hinaus und verschiebt die Frage nach dem Beginn ins Kosmische. Spuren der dort lebenden indigenen Menschen reichen bis 60.000 Jahre zurück, ihre Tänze brauchen keine Theaterbühnen – und wenn sie dort zu sehen sind, dann meist in exotisierender Verzerrung.

Wie beginnt man also eine Choreografie über den Anfang? Na, rückwärts natürlich: So läuft Hepi im Kreis über die Bühne des Mousonturms, während ein wummernder Klang Assoziationen zum Urknall weckt. Bei ihrer Zeitreise zurück zum Ursprung stellt sie unablässig Vermutungen darüber an, was denn da nun war, am Anfang. Nach der Erkundung verschiedener Schöpfungsmythen – immer gleichzeitig tanzend und sprechend – nimmt sie uns dann wieder mit in die Gegenwart und zeigt unmissverständlich, dass die Idee des Ursprungs selbst ein westliches Konstrukt ist, dem Gewalt innewohnt. Hepi erzählt von der Entstehung des Stücks, davon, wie sie bei einer offenen Probe den Tipp bekommt, sich lieber auf den Haka der Maori als auf die großen (post)modernen Tänzer*innen aus New York City zu beziehen, wo sie studierte. Das sei authentischer.

Glücklicherweise ignoriert sie diesen Ratschlag und zeigt beides: Beim Haka berichtet sie dem Publikum von ihrer eigenen Ambivalenz gegenüber diesem Tanz und wie sie sich als Teenagerin manchmal hässlich fühlte, wenn sie die Augen weit aufriss und das Gesicht zu einer Grimasse verzog. Ohne je aufzuhören sich zu bewegen, verhandelt sie auf kluge Art und Weise Fragen von kultureller Aneignung und dem Besitzrecht an tänzerischen Bewegungen. Denn ähnlich wie die Avantgarde in der bildenden Kunst sind auch im Tanz große Teile des Bruchs, den die Moderne bedeutete, durch die Aneignung indigener Formen entstanden. Hepi erwähnt zum Beispiel die „Denisshawn School of Dancing and Relating Arts“, die sich unverhohlen an außereuropäischen Tänzen bediente, und zu deren berühmten Schüler*innen unter anderem Martha Graham gehörte.

Auch wenn die Arbeit ernste und schwerwiegende Themen verhandelt, bleibt „Rinse“ ein kurzweiliges Sehvergnügen. Hepis Zitate der Horton-Technik und anderer kanonischer Stile sind ironisch und witzig, auch der gesprochene Text liefert immer wieder Momente von comic relief. Gemeinsam mit ihrer Ko-Autorin Grigor gelingt ihr so eine politisch wuchtige, fein getaktete Choreografie, die, obwohl sie sich mit komplexen politischen, philosophischen und anthropologischen Fragen auseinandersetzt, nie ins Abstrakt-Theoretische abgleitet. Stattdessen endet sie mit einem lauten Knall, wenn das Publikum dazu eingeladen wird, gemeinsam ein kleines Handfeuerwerk zu zünden – nur, um dann zu realisieren, dass die gelöste Atmosphäre in den Rängen auf der Bühne blutig endet. 

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern