Starke Frauen, sensible Männer
Die Preisträger*innen des Internationalen Stuttgarter Solo-Tanz-Theater-Festivals in der Hebelhalle
Es gibt nicht viele Nachwuchs-Choreografen, die über eine prägende, wiedererkennbare Handschrift verfügen; der israelische Choreograf Roy Assaf spielt in dieser Liga. Im Rhein-Neckar-Raum konnte man den ehemaligen Assistenten von Emanuel Gat mit einem wunderbar leichtfüßigen, witzigen Stück für das Mannheimer Nationaltheater („Point of principle“) kennenlernen. Es war seine ganz persönliche Bewältigung einer mentalen Krise, in die er nach dem 7. Oktober 2023 geraten war. Die friedliche Koexistenz von Juden und Palästinensern war für ihn bis dahin eine gelebte Selbstverständlichkeit; umso mehr traf ihn der Verrat an seinen Überzeugungen. Trotzdem gelang ihm einmal mehr die choreografische Verbindung von attraktiver Ästhetik mit intellektueller Schärfe und tiefgründigem Witz.
Als Senkrechtstarter in der internationalen Choreografen-Riege landete der Vater dreier Töchter mit seiner eigenen Company 2014 den internationalen Erfolg „Girls“. Dass Bernhard Fauser und Jai Gonzales dieses Stück in die Hebelhalle holen konnten und eine aktuelle Choreografie für einen zweiten Gastspielabend noch dazu, ist eines von den kleinen Wundern in einer Zeit, in der es düster aussieht für anspruchsvolle kulturelle Vorhaben.
Aufbrechen oberflächlicher Klischees
Die fünf Tänzerinnen in roten Trikots könnten einer Revue entsprungen sein – aus einer Zeit, als die Beinausschnitte noch nicht bis in Höhe Bauchnabel reichten. In einer perfekten Mischung aus brav und sexy üben sie sich auf einem schmalen weißen Tanzteppich in der hohen Kunst des Formationstanzes. Da verlangt Roy Assaf seinen fünf Protagonistinnen in anspruchsvollem Timing allerhand ab: perfekte Glanznummern mal unisono, mal seriell oder gespiegelt funktionieren die „Girls“ bestens aufeinander abgestimmt. Gleichzeitig wird die glatte Klischee-Oberfläche immer mehr aufgebrochen, und darunter kommen höchst menschliche und schön widersprüchliche Emotionen zum Vorschein.
Roy Assaf arbeitet viel mit Sprache, die den Tanz mal subtil, mal drastisch unterläuft. Als Girlband müssen die Damen a capella singen, absurderweise im Liegen. Roy Assaf bürstet das Bewegungsmaterial immer mehr gegen den Strich, setzt die Tänzerinnen im Sitzen mit gespreizten Beinen genüsslich voyeuristischen Blicken aus oder lässt sie mit dem Rücken zum Publikum ihre attraktiven Kehrseiten nach oben recken, so dass sie scheinbar nur noch aus Beinen und Becken bestehen … Am Ende dürfen sie laute Protestschreie ausstoßen. Diesem witzigen, doppelbödigen und dabei noch attraktiv anzuschauenden Aufdecken von Klischees ist der Beifall des Publikums gewiss – so auch beim Gastspiel in der Heidelberger Hebelhalle.
Elf Jahre später ist die Handschrift von Roy Assaf immer noch unverkennbar, aber schärfer und politischer geworden. „The Fall Of A Structure“ heißt sein neues Stück, das die fünf Tänzerinnen (erstmals in der aktuellen Tournee-Besetzung) in Heidelberg bravourös auf die Bühne brachten. Strukturen können natürlich immer kaputtgehen, aber in diesem Fall, man ahnt es schon, betrifft der Zerfall den Tanzabend selbst. Man muss auf einen angeblich verspäteten Ehrengast warten, eine Tänzerin entschuldigt sich mit Knieproblemen, und mittendrin kann‘s erst weitergehen, wenn jemand aus dem Publikum einen Text vorliest. „Frag mich nicht nach …“ heißt es in einer wiederkehrenden Beschwörungsformel, und schon bevölkern diese Fragen wie unsichtbare rosa Elefanten die Bühne. Ausdruckstanz ist ein Stichwort, und tatsächlich mixt Roy Assaf Formationen, die direkt aus einer aktuellen Musikshow stammen könnten, mit Ballettvokabular und der individuellen Verkörperung von Emotionen. Die Girls (in schwarzen Radlerhosen und Samtkorsagen mit artig frisierten Ballettknoten) können das eine wie das andere.
Lockere Nummernrevue
Der Abend kommt als lockere Nummernrevue einher, eingerahmt von einer Sequenz, in der die Tänzerinnen ein unsichtbares Etwas zwischen ihren Händen teilen, umsorgen, fallenlassen und wieder aufheben, in einer immer gleichen Abfolge – die mit genauem Gespür für Timing durchbrochen wird. Dieses „Unsichtbare“, so erzählt es Roy Assaf im Gespräch, ist in den Proben als letztes dazugekommen und hat immer mehr an Gewicht gewonnen. Er kommt nie mit einem fertigen Plan ins Studio, sondern erarbeitet seine Stücke immer mit den Tänzerinnen und Tänzern zusammen.
Mit einer Nummer (die er nicht immer zeigen lässt) lehnt er sich dann doch aus dem politischen Fenster. Eigenhändig hat er den patriotischen Song „God bless America“ umgedichtet und auf das „Holy Land“ gemünzt, das sich „from the river to the dead sea“ erstreckt - und nicht etwa wie im Pro-Palästinenser-Slogan „to the Sea“ (dem Mittelmeer). Dazu tanzen drei Damen einträchtig eingehakt, von oben blutrot angestrahlt. Zeit, über die Botschaft nachzudenken, bleibt nicht, denn der Zerfall des Tanzabends geht munter weiter. Beiläufige Unterhaltungen über Philosophisches, Emotionales und Banales zu einem technisch herausfordernden Duo brechen den Zusammenhang zwischen tänzerischer Bewegung und Interpretation vollends auf. Letztere bleibt dem Publikum überlassen, und vielleicht ist das Wesen des Tanzes eben doch unsichtbar – so endet der Abend, wie er angefangen hat, und mit großem Beifall.
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