Ungewollte Endzeitstimmung
„Viel leicht“ von Jai Gonzales in der Heidelberger Hebelhalle
Von Emily Dickinson, der großen amerikanischen Dichterin des 19. Jahrhunderts, sind zu Lebzeiten nur sechs Gedichte veröffentlicht worden. Umso mehr hat die exzentrische Poetin nachfolgende Generationen inspiriert – durch die bedingungslose Schärfe ihrer Gedanken, die Kürze, Prägnanz und radikale Rauheit ihrer poetischen Sprache – vor allem aber durch die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich über literarische Konventionen hinwegsetzte.
Die Choreografin des Heidelberger UnterwegsTheaters, Jai Gonzales, hat ihrem jüngsten Stück „No Body Some Body“ ein Gedicht von Emiliy Dickinson zugrunde gelegt. „I’m Nobody! Who are you?“ ruft die Dichterin einem ungenannten Gegenüber zu. Sie schlägt vor, sich als zwei „Nobodys“ zu treffen – ohne sich als „Somebody“ zu definieren, das heißt ganz ohne Selbstanpreisungen und gesellschaftliche Zuschreibungen (die sie mit treffsicherem Witz mit Gequake in einem Froschteich vergleicht.) Freilich, ganz ohne soziales Netz kam auch die exzentrische Poetin nicht aus – sie schickte ihre Gedichte ausschließlich an Familienmitglieder und einen vertrauten Freundeskreis.
Eine pure Begegnung von Mensch zu Mensch – diese ziemlich radikale Idee hat Jai Gonzales ihrem sechsköpfigen Ensemble zugetraut und zugemutet. Als Kontrapunkt zur allgemein salonfähig gewordenen Selbstvermarktung ist dieses Konzept zugleich sehr modern. Wie ist das, wenn man sich ganz allein auf den eigenen Körper verlässt – ohne zugeschriebene Rolle, ohne begleitendes Image? Andererseits: Da ist die Energie der Gruppe auf der Bühne, und jeder und jede Einzelne ist auf der Bühne dann doch nicht allein.
Unsichtbares Netz der Gemeinschaft
Jai Gonzales hat einen ungeheuer treffsicheren Blick dafür, was in jedem einzelnen individuellen Tänzerkörper steckt, und sie hat ein Ensemble zusammengestellt, das in Sachen Erfahrung, Körperproportionen und Bewegungsenergie unterschiedlicher kaum sei könnte. Umso wirkungsvoller sind die Momente, in denen sich die drei Tänzerinnen (Nerve Arbel, Nina Michailidou, Yu-Yuan Huang) und drei Tänzer (Stavros Apostolatos, Théo Vanpop, Nikos Grigoriadis) in einer Gruppenformation treffen.
Es geht um mehr als um Individuum und Gruppe in diesem Stück – eher um die (Ein)Sicht, dass der Mut, sich als „Nobody“ zu outen, getragen wird vom unsichtbaren Netz der Gemeinschaft. Es ist ein dichtes, intensives Stück, das in der letzten Probenwoche noch unverhofft an musikalischer Dringlichkeit gewonnen hat. Drummer Romain Vicente blieb nach seiner Mitwirkung beim „Art Y Circ“-Programm sozusagen in der Hebelhalle hängen. Der prominente französische Punk-Schlagzeuger, der die „Scorpions“ bei ihrer legendären Russlandtournee begleitet und schon in Wacken gespielt hat, ließ sich von der Körperarbeit in „No Body Some Body” gebührend inspirieren. Nuancenreich und mit klarem Gespür für dramatische Effekte unterstrich sein Live-Spiel wirkungsvoll den dramaturgischen Spannungsbogen.
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