Marco Goecke bei der Probenarbeit mit Parker Gamble, 2025

Ich choreografiere nicht, ich lebe!

Mit Marco Goecke im Gespräch

Er gilt als Enfant terrible und Ausnahmekünstler des zeitgenössischen Tanzes. Jetzt steht mit „Der Liebhaber“ die erste Premiere als Ballettdirektor am Ballett Basel bevor.

Basel, 07/10/2025

Angekommen

Marco Goecke, Neustart in Basel und schon angekommen? Dazu gehört ja in Ihrem Fall auch immer ein Café – sozusagen als erweitertes Wohnzimmer. Wir sitzen in der Herbstsonne am Marktplatz in Basel. Also schon das Lieblingscafé gefunden?

Ja, ich gehe gerne hier ins Café Schiesser. Ich gucke mir überall auf der Welt, wo ich bin, immer zuerst die Cafés an, die irgendwie Geschichte oder so eine Patina haben. Das Interessante in der Schweiz ist, dass die auch irgendwie so bewahrt werden. Ich habe manchmal das Gefühl, in Deutschland wird das alles kaputt gemacht, was alt ist. Und da habe ich das Gefühl, die pflegen das hier ein bisschen anders. Das mag ich.

Und auch schon in Basel angekommen? In der Stadt? Und am Theater? 

Ja, ich bin schon hier. Natürlich, wenn man in die Schweiz zieht, ist das ein bisschen anders, als wenn man ins EU-Ausland zieht. Für uns alle, auch für die Tänzer, war das viel Arbeit. Das ist nicht so einfach. Und da gibt es einiges zu lernen im Verhalten – und wie das hier so funktioniert. Was mir hier gefällt, ist, dass hier auch viele Touristen sind, dass viele Leute aus aller Welt hier sind. Für so eine kleine Stadt. Und das Theater, ich will gar nicht sagen, dass ich das in Hannover vielleicht nicht so empfunden habe, aber hier empfinde ich es sehr extrem, dass das ein sehr frischer Ort ist. Hier wirkt das alles ein bisschen lockerer.

 

Premierenfieber

Das ist ein gutes Stichwort – locker – es sind nur noch ein paar Tage bis zur ersten Premiere und Sie sitzen hier ganz relaxt in der Sonne: kein Probenstress – keine Panik vor dem viel beachteten Start in Basel?

Nein, natürlich habe ich da keine Panik. Es laufen viele Proben, aber ich bin ja gar nicht an allen beteiligt. Da studiert ja vieles mein Team ein. (Außerdem ist ja heute Samstag.) Ich bin nur dann ein Workaholic, wenn es wirklich sein muss. Aber natürlich bin ich schon aufgeregt. 

Hätten Sie vor zwei Jahren, als der Skandal Ihre Karriere abrupt gestoppt hat, gedacht, nochmal die Chance zu bekommen, Ballettdirektor an einem Haus zu werden? 

Ich kannte Benedikt von Peter schon seit vielen Jahren. Er hatte sogar schon eine meiner ersten Arbeiten in Stuttgart gesehen. Wir haben ein Projekt zusammengemacht als er Intendant in Luzern war. Ich hätte nicht gedacht, dass ich einmal in der Schweiz lande. Aber ich bin dankbar, dass er mir diese zweite Chance gegeben hat.

Sie wirken, um mal den schönen alten Begriff zu benutzen, geläutert. Sie haben stark abgenommen, 26 Kilo weniger. Hat das alles damit zu tun? 

Na, mit dem Abnehmen, das war einfach Zeit. Das habe ich schon vorher angefangen, langsam. So kommt man im Leben halt immer Schritt für Schritt mehr zu sich. Und erkennt sich und lernt über sich. Und verändert sich auch. Der 50. Geburtstag vor drei Jahren, das war auch ein Einschnitt. Das gehört irgendwie alles zusammen. Und das sehe ich auch als eine Reise, die so war. Aber klar ist da immer noch das öffentliche Interesse an dem Skandal. Aber das ist fast drei Jahre her, und ich habe mittlerweile schon wieder so viel Gutes gegeben, und das ist halt auch der Gegenpol. 

 

Neustart in Basel

Sie meinen Ihre neuen Stücke für München, Nürnberg, Stuttgart. Und jetzt die Arbeit in Basel als Ballettdirektor. Aber Sie sind nicht allein. Es gibt ein Leitungsteam mit zwei langjährigen Begleitern, Ihrer Agentin Nadja Kadel und Ludovico Pace, bisher Ballettmeister, jetzt Geschäftsführer. Also Sie verteilen die Last auf mehrere Schultern. Ist das auch ein Learning aus Hannover, wo Sie von Burnout sprachen?

Nö, nö, nö. Ich hatte ja auch den Christian Bloßfeld in Hannover, der ja auch ganz viel getragen hat, um mir den Rücken freizumachen. Es gibt einfach so viel zu tun, das ist nicht mehr meine Aufgabe. Ich weiß alles. Aber wenn man ein guter Chef ist, dann muss man den Leuten vertrauen. Und ich vertraue diesen Leuten auch, dass sie das gut machen. Und das ist das Wichtigste, wenn man so eine Position hat. 

Für das Ballett Basel stehen Namen wie Heinz Spoerli, dann 22 Jahre Richard Wherlock. Unter ihm galt das Ballett Basel als Cash Cow des Theaters. 

Früher, als ich in den 90ern jung war und getanzt habe, da war Wherlock für uns angesagt. Das wollten wir alle tanzen. Eigentlich ganz schön, habe ich ihm auch erzählt. Für Basel habe ich noch nie was gemacht. 

2023 kam Adolphe Binder, Expertin für Tanzprojekte, für zwei Jahre als Kuratorin ans Haus. Sie sollte und hat frischen Wind mitgebracht, hat andere Handschriften ans Haus geholt – auf welche Situation treffen Sie jetzt am Haus?

Ich muss wirklich sagen, dass ich Adolphe gar nicht gut kenne. Ich glaube, ich habe sie einmal gesehen. Was Adolphe hier bestimmt probiert hat, war eine andere Art von Theater, eine andere Art von Tanz, völlig legitim. Dass wir natürlich auch ein bisschen Publikum jetzt zurückholen wollen, die das nicht goutiert haben, ist unser Versuch. Aber ich verurteile niemanden, dem das nicht gefällt.

 

Spielplan-Pläne

Es kommt ja jetzt wieder ein neuer Tanzstil, ein für viele sogar sehr extremer mit Marco Goecke. 

Ist doch gut. Das meinte ich auch eben. Freut euch doch darüber. Oder? Wenn es nicht passt, dann passt es nicht. Ist okay, dann passt was anderes. In der ersten Spielzeit habe ich Hans van Manen und Jiíi Kylián eingeladen. Und auch zwei Choreografinnen – Anne Jung und Lilit Hakobyan –, die zwei Uraufführungen kreieren.

Jetzt haben wir gerade schon ein paar Mitglieder des Ensembles gesehen. Keiner geht hier am Café vorbei ohne den „Chef“ zu begrüßen. Es sind 28 Tänzer und Tänzerinnen, viele davon aus Hannover, München, Stuttgart, wo sie schon mit Ihnen gearbeitet haben. Also das Ensemble trägt schon Ihre Handschrift?

Ich habe natürlich welche hier behalten aus dem Ensemble, weil es ja auch tolle Tänzer hier gibt. Und dann habe ich ein paar ganz neue, aber wenige, und die anderen Tänzer aus Hannover, die mitkamen. Aber es gibt zum Beispiel auch zwei Leute, die vorher noch nie etwas von mir getanzt haben.

Welche Idee verfolgen Sie für den Spielplan, aber auch die Ausrichtung der Kompanie? 

Gut, ich bin jetzt in einem Alter, wo es mich auch interessiert, alte Stücke von mir anzugucken. Vor zehn Jahren hat mich das nicht interessiert. Oder da war ich zu kritisch. Das bin ich auch immer noch. Aber ich möchte noch mal gucken, was ich gemacht habe. Eine Wertigkeit in der Sache finden, diese Stücke auch zurückzubringen. Und gleichzeitig neue Stücke machen. Und ich habe ja auch das Glück, dass ich abstrakte Stücke mache, dass ich auch die Möglichkeit habe, erzählende Stücke zu kreieren.

Ich habe ja auch bewiesen, dass ich das beides gut kann. Und da bleibe ich natürlich dran. Trotzdem versuche ich die Choreograf*innen einzuladen, die für mich geschichtlich relevant sind. Ich lege auch einen Fokus auf neue Leute. Was ja das Allerschwierigste von allem ist. Ein Talent taucht ja nicht alle fünf Jahre auf. Unmöglich. Und dafür muss ich immer gucken. Da müssen junge Leute rein. Das habe ich in Hannover aber auch gemacht. Wir hatten da auch mit BASF eine tolle Förderung, junge Choreograf*innen zu unterstützen. 

Das ist eine große Bandbreite an Tanzstilen – spannend fürs Publikum, aber auch eine große Herausforderung für das Ensemble – zumal, wenn es sich erst finden muss, das braucht Zeit. Haben Sie die oder sind Sie nicht zum Erfolg verdammt?

Das Ensemble ist ganz erstaunlich schnell zusammengewachsen, da war ich selbst überrascht. Vielleicht war es für die Kompanie auch hilfreich und schön, dass wir bereits in den ersten Wochen nicht nur am „Liebhaber“ gearbeitet haben, sondern auch schon mit den Ballettmeistern von Kylián und van Manen. Die Tänzer sind es gewohnt, unterschiedliche Stile zu tanzen, und sie freuen sich da auch sehr darauf. Wir arbeiten nicht mit Spitzenschuhen, aber ansonsten, da haben Sie Recht, ist die Bandbreite groß.

 

„Der Liebhaber“ 

Thema alte Stücke von Marco Goecke. Ich habe zuerst etwas gestutzt, dass Sie mit einem Stück in Basel starten, das von 2021 stammt: „Der Liebhaber“ nach dem Roman von Marguerite Duras. Also es ist eine Baselpremiere, aber keine Uraufführung.

Aber eine Schweizer Erstaufführung. 

Warum dann gerade dieses Stück? Ich meine, es hätte zum Bespiel auch das vielfach ausgezeichnete Werk „Nijinsky“ gegeben. 

Es hätte viele, viele andere gegeben. Alles im Kopf, natürlich auch in der Zukunft. Aber „Der Liebhaber“ wurde auch wegen Corona nicht so oft gezeigt. Und das ist ein gutes Stück. Wir müssen ja mit irgendwas anfangen. Ich meine, ich stecke auch schon seit längerem in den Vorbereitungen zum neuen „Nussknacker“. Die Uraufführung kommt ja gar nicht so spät hinterher.

Da ist die Premiere am 13. Dezember – „Nussknacker“ ist natürlich der Klassiker zur Weihnachtszeit, das verspricht ein volles Haus. Aber da gibt's ja auch schon eine Choreografie von Ihnen, ihr allererstes Handlungsballett, aufgeführt 2006 in Stuttgart.

Das finde ich eigentlich ganz spannend. Damals, das war schon wild, und das war gut, aber das ist natürlich 20 Jahre her. Und ich werde mir das sicherlich nochmal angucken, was ich da gemacht habe, aber das mache ich schon neu. Und die Geschichte von Hoffmann ist auch so undurchsichtig, düster, seltsam – das hat schon irgendwie was auch mit Alice im Wunderland zu tun. Ob das irgendwie auf Drogen alles geschrieben wurde? Keine Ahnung. Ich bin da nicht so, dass ich denke, das hast du ja schon gemacht, dann mache ich das halt nochmal. Heute. 

 

Vorsätze

Apropos machen: Sie haben in einem Interview gesagt, dass Sie sich auf Basel konzentrieren wollen. Das klang auch wie ein Learning aus dem Burnout, denn neben der Intendanz in Hannover waren Sie ja noch Artist in Residence bei Gauthier Dance in Stuttgart und beim NDT. Und sind das immer noch. Nicht umsonst gibt es heute schon gut 100 Choreografien von Ihnen. Gerade kommen Sie aus Prag zurück mit einem Auftrag für das Tschechische Nationalballett. Also wie sieht es aus mit dem Vorsatz? 

Ja, ich habe schon entschieden, mich auf Basel zu konzentrieren und nur ein weiteres größeres Stück pro Jahr auswärts zu machen. Aber das ist ein ganz komischer Konflikt. Marguerite Duras hat einmal gesagt, und ich kann das irgendwie unterschreiben: „Ich wünschte mir, ich hätte die Kraft nichts zu tun. Aber ich habe diese Kraft nicht, deshalb schreibe ich Bücher“. 

Und so geht es Marco Goecke mit dem Choreografieren?

Es ist immer wieder so, ich kann mir abends, wenn ich ins Bett gehe, nicht vorstellen, morgens irgendwo hinzugehen und ein neues Stück zu machen. Aber dann ist doch jeden Morgen irgendetwas in mir. Und manchmal denke ich, okay, Marco, das scheint es irgendwie doch zu sein, weil ich ja doch merke, dass ich es immer wieder tue, obwohl ich mir in die Hose mache vorher, und zwar seit 26 Jahren, und das sind schon Kräfte, die ich nicht jedem wünsche. Mich hat gestern ein Tänzer gefragt, ob ich Lust habe zu choreografieren, und da habe ich ihm gesagt, ich habe noch nie Lust gehabt zu choreografieren. Ich glaube, ich habe einfach nur gelebt. Das ist der Unterschied.

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