Verdient
Goyo Montero erhält Bayerischen Verdienstorden
„Lux Tenebris“ von Rafael Bonachela, „Artefact“ von Stephanie Lake und „Tilt“ von Goyo Montero in Nürnberg
In „Bonachela/Lake/Montero“ am Staatstheater Nürnberg und getanzt vom Staatsballett verbindet der Hausherr Goyo Montero zwei Arbeiten von Gästen, darunter eine Uraufführung, mit der Neuaflage eines eigenen Stückes.
„Lux Tenebris“ von Rafael Bonachela kreuzt Rock’n’Roll mit Forsythe
Visueller Clou von „Lux Tenebris“ des gebürtigen Spaniers Rafael Bonachela – seit 2009 Künstlerischer Leiter der Sydney Dance Company – ist das 35-minütige, unvorhersehbare Wechselspiel zwischen Finsternis und Licht. Auf vornehmlich schummriger Bühne wird das Aufleuchten mal heller, mal gedimmter Lichtquellen zu einer Art Stimmungsbarometer und Antrieb für 22 Tänzerinnen und Tänzer. So lange diese im Schatten verweilen, lässt sich ihre Präsenz nur erahnen. Doch jedes Mal, wenn irgendwo der Schein von Lampen die Dunkelheit für Augenblicke durchbricht, wird ein lebhaftes Wuseln sichtbar – und ihr quirliges Interagieren in sich rasant verändernden Konstellationen. Die Musik stammt von dem zeitgenössischen australischen Komponisten Nick Wales und wurde ursprünglich für Sydney produziert
Eine Passage in Bonachelas höchst dynamischer, temporeicher Choreografie lässt sich in Worten kaum beschreiben. Dabei muss man gleichzeitig an Rock'n'Roll tanzende Paare und Ballett im Verständnis eines William Forsythe denken. Über eine weite Strecke schimmert da für Monteros sich bewegungstechnisch stets bestens behauptende Truppe viel Unbeschwertheit durch in diesem sich instinktiv aus der Finsternis schälenden Narrativ. In einer solch verquer-stimmigen Kombination unterscheidet sich die Unbekümmertheit von Bonachelas „Lux Tenebris“ von Monteros Arbeiten – trotz punktuell durchaus vergleichbaren Ideen.
„Artefact“ von Stephanie Lake als Uraufführung
Zum Schluss des Abends sorgt die ebenso gruppen- wie strukturstarke Uraufführung „Artefact“ von Stephanie Lake (nicht zu verwechseln mit Forsythes „Artifact“ aus dem Jahr 1984) für einen Rausschmeißer der Extraklasse. Die Choreografin und Leiterin einer eigenen, in Melbourne beheimateten Kompanie wurde in Kanada geboren und wuchs in Tasmanien auf. Seit 2024 ist Lake Hauschoreografin des Australian Ballet.
Lakes Choreografie beginnt mit gewöhnlichen Schritten und kleinen Gesten. Auf der Bühne fusionieren sie zu faszinierenden Formen, die Schönheit entfalten. Der Vorhang hebt sich. Stille. Parallel zur Rampe zieht sich ein Lichtstreifen quer über die Bühne. Ordentlich hintereinander aufgereiht marschiert das Ensemble ein. Eine Tänzerin bleibt stehen. Lautes Atmen ist zu hören. Die Tänzerin reiht sich wieder ein. Alle bis auf einen Tänzer gehen nach rechts in die Kulisse ab. Kurz darauf taucht die Reihe hinten links wieder auf. In Diagonalen, dann Kreisen setzt sie ihren Weg fort. Das hat Witz. Durch Einsetzen von Trommelklängen wird ein Paar zu einem Duett motiviert. Fix bilden die restlichen Tänzerinnen und Tänzer um sie herum einen Rahmen. Doch der bekommt bald Lücken. Nach und nach drängen sich alle in der Mitte. Man redet aufeinander ein, versprengt sich im Raum und sortiert sich im Halbkreis neu.
„Artefact“ hat das Unscheinbare und Alltägliche zum Thema: Beziehungen, Zustände von Euphorie, Missmut oder Schmerz. Lake lässt tänzerisch das Leben pulsieren und die 23 Mitwirkenden ins Stocken geraten. Nichts bleibt lange, wie es ist. Bild für Bild ordnet sich alles neu. Facette für Facette fügt sich aus flüchtigen Impulsen, markanten Posen und akrobatischen Einsprengseln das Kaleidoskop einer Gemeinschaft vieler Individuen zusammen, die zwar Ermüdung, aber keinen Stillstand kennen. Bewegung bedeutet Veränderung.
Mal bündelt eine große Gruppe mit ausgreifenden Armschwüngen die gesamte Energie. Dann wieder verteilt sich diese auf sich scheinbar zufällig in die Arme fallende Paare und ungewöhnliche Duette. Später kommen schwarze Boxen ins Spiel. Im Hintergrund gestapelt erinnern sie an eine Stadtsilhouette voller Hochhäuser in weiter Ferne. Vorne im Rampenlicht – platziert in zwei Reihen – werden Hocker in Würfelform und dazwischen eine Straße daraus. Die Protagonist*innen setzen sich, beugen sich vor, sacken gelangweilt in sich zusammen, und wippen dramatisch. Ein Bumpern erklingt. Die Kuben werden verstaut, der Raum nach hinten geöffnet. Vier in ihrer Bewegungsqualität unterschiedliche Gruppen flirren über die Bühne. Immer schnellere Beats treiben die Choreografie an. Die Lichtstimmung wechselt zu Rot. Ein Teil des Ensembles prescht bis auf den überbauten Orchestergraben vor. Noch eine geschwinde Drehung um die eigene Achse, dann bricht „Artefact“ jäh ab.
Goyo Monteros Neufassung von „Tilt“
Zwischen den beiden Gastbeiträgen präsentiert Goyo Montero die eigens für „sein“ Staatstheater Nürnberg Ballett überarbeitete Neufassung von „Tilt“. Die damit als letzte ins Repertoire eingebrachte eigene Arbeit des spanischen Tanzmagiers ist bereits 2023 für das Staatsballett Hannover entstanden – ab nächster Spielzeit Monteros neue Wirkungsstätte als Tanzspartenleiter. Einfluss auf die Themenfindung hatte der Poker-Thriller „The Card Counter“, den Montero – so ist im Programmheft zu lesen – zufällig gesehen hat. Der Pokersprache entstammt auch sein Titel: „Tilt“ beschreibt den Zustand des Kontrollverlusts von Spielern und damit die Fragilität eines womöglich lebensentscheidenden Grenzmoments. Genau an diesem heiklen Kipp-Punkt setzt Montero an – treu seinem stets profund-eigenwilligen künstlerischen Zugriff ganz tiefenemotional scharf abstrahierend.
Und so ist auf der Bühne im Nürnberger Opernhaus einmal mehr ein Kraftwerk an inhaltlichen Visionen, narrativer Emotionalität, hintergründig andersartigen Sichtweisen auf bekannte Vorlagen, choreografisch eine Menge an Assoziationen freisetzenden Einfällen und dynamischen Bewegungsevolutionen von Soloparts über Duette bis hin zu fantastisch fließend ausgearbeiteten Gruppenformationen zu erleben: expressiv, aufwühlend, berührend schön und in der Verquickung mit zwei mobilen, den Raumeindruck gewaltig verändernden Spiegelwänden theatralisch unheimlich effektvoll. Phasen, Entwicklungen und Zuspitzungen innerer Bewegtheit werden tänzerisch virtuos, teils furios und zugleich durchsetzt von schlichten Elementen erzählt.
Wiederholt lässt Montero seine insgesamt 15 Protagonist*innen entweder allein oder gemeinschaftlich durch die Luft segeln. Gruppen splitten sich in Untergruppen auf. „Tilt“ ist Tanz pur, fantastisch inszeniert und für alle Tanzenden technisch, aber auch darstellerisch herausfordernd. Schwingt doch in jeder vermeintlich noch so kleinen motorischen Nebensächlichkeit etwas an inhaltlicher Bedeutsamkeit mit. Typisch für Montero, der unabhängig davon, worum es thematisch in einem seiner Stücke geht, poetisch scharfsinnig aus dem Vollen schöpft.
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