„Gravitiy“ von Rafaële Giovanola, Tanz: Ensemble

Fallen, Aufstehen, Zusammenhalten

„Gravitiy“ von Rafaële Giovanola für tanzmainz

Mit den Begrenzungen durch die Schwerkraft lässt sich eigentlich ganz gut umgehen. Wenn man aufeinander achtet.

Mainz, 23/11/2025

„I‘m falling for you” ist eine Liebeserklärung. Was, wenn man sie wörtlich nähme? Cornelius Mickel, tänzerisches Urgestein bei tanzmainz, und Lin von Kaam – baumlanger Newcomer im Ensemble – sind allein auf der spektakulär simplen Bühne im Mainzer Schauspielhaus: Der blaue Tanzteppich ist zwischen zwei sich gegenüberliegenden Tribünen aufgespannt, offene Seitentüren erlauben dramatische Auf- und Abgänge. Der ältere Tänzer strauchelt, aber es ist der jüngere, der an seiner Stelle stürzt, wieder und wieder. 

So fesselnd beginnt der neue Tanzabend „Gravity“; er endet mit einem rückwärts drehenden Menschenstrudel, siebzehn Tänzer*innen auf engstem Raum, die sich intuitiv und scheinbar lässig mit der Schwarmintelligenz von Vögeln oder Fischen gemeinsam bewegen. Dazwischen: Fallen. Aufstehen. Zum sprichwörtlichen „Krone richten“ bleibt kaum Zeit. Was der Choreografin Rafaële Giovanola an Variationen zum Umgang mit der Schwerkraft einfällt, bietet Höchstspannung.

Immer wieder: Faustpreis für tanzmainz

Die Fähigkeit, Gedankenexperimente in fesselnden Tanz zu übersetzen, prägt den internationalen Ruf der Schweizer Choreografin Rafaële Giovanola. Die Gründerin der Bonner Kompanie CocoonDance war die Wunschbesetzung des Ensembles für ein Stück in der vorletzten Spielzeit von Tanzchef Hone Dohrmann. Seit er 2014 die Tanzsparte in der Domstadt übernommen und zu einer ausschließlich mit Gastchoreograf*innen arbeitenden Kompanie umfunktioniert hat, wurde tanzmainz dreimal mit dem Faustpreis ausgezeichnet: Den Anfang machte ein anderes Stück zum Thema Fallen: „Fall Seven Times“ von Guy Nader und Maria Campos (Faustpreis 2017). Das akrobatisch geprägte Stück war ein großer Publikumserfolg; der größte, „Soul Chain“ von Sharon Eyal und Gai Behar (Faustpreis 2018) ist bis heute im Spielplan vertreten. Zwei Jahre später ging der renommierte Theaterpreis wieder an tanzmainz: für die Aufsehen erregende Erkundung des aufrechten Ganges in „Sphynx“ von Rafaële Giovanola.

Ihr neues Stück ist den Tücken einer unberechenbaren Schwerkraft gewidmet und zeichnet das Fallen als grundlegenden Bestandteil menschlicher Existenz. Kostümbildnerin Lucia Vonrhein (früher verantwortlich für die Kostüme in „Fall Seven Times“) hat den Tänzer*innen einen futuristischen, zugleich sportlichen und anspielungsreichen Lagenlook verpasst – individuelle Schutzschichten über der blanken Haut, die hier zu Markte getragen wird. 

Stolpern, rutschen, straucheln

Sensible Unterstützung ist anfangs Trumpf: Wenn die insgesamt siebzehn Tänzer*innen aus den unterschiedlichsten Richtungen auf die Bühne stolpern, rutschen und straucheln, begegnen sie selbstverständlicher Fürsorge – ihr Fallen wird mit großer Selbstverständlichkeit verhindert, so gut es geht. Die Situation kippt, sobald die Schwerkraft sich nicht mehr durch einen unsichtbaren Kick ins Knie Einzelner bemerkbar macht, sondern durch einen unwiderstehlichen Sog. Fallen wird zur neuen Normalität – und die bodennahe Fortbewegung zur neuen Gruppen-Herausforderung. Robben, seitwärts hechten, Speed-Rückwärtslaufen auf allen Vieren, Rolle rückwärts mit eingebauter Kerze, akrobatisches Trockenschwimmen … frei nach dem Mantra von Samuel Beckett: „Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern“.

Getrieben von den pulsierenden, immer schneller rhythmisch auftrumpfenden Dancefloor-Klängen des portugiesischen Musikers Tiago Cerqueira greifen die Tänzer*innen das Fallen als neue Herausforderung auf. Unterwegs gehen Hoodies und Schoner, Überhosen und Hüftgurte, Schuhe und Strümpfe schon mal verloren; nicht aber das Gemeinschaftsgefühl. Der Druck trifft alle gleichermaßen, aber es sind die Augenblicke des Zusammenhalts, in denen die Resilienz gegen die dominierende Schwerkraft wächst bis zum eindrucksvollen Schlussbild. 

So kann nur ein Ensemble agieren, in dem individuelle Entwicklung und kreatives Miteinander seit langem gleichberechtigt auf der Agenda stehen.  Schwer vorstellbar, dass der Faustpreis noch einmal an tanzmainz geht. Egal, die Publikums-Abstimmung mit den Füßen für dieses Stück läuft noch. Teilnahme empfehlenswert! 
 

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