Tabula Rasa in Köln
Aus für Richard Siegal und sein Ballett of Difference
Von Nico Hartwig
„Ich habe die Regentropfen in den Scheiben geliebt.“ In einem mit billiger Partydeko geschmückten Autohaus sitze ich mit fremden Leuten in einem Stuhlkreis. Neben mir summt ein kleines Spielauto vorbei. Ein Mikrofon wird herumgereicht. „Ich hatte meinen ersten Kuss im Auto.“ Oder auch: „Ich habe es geliebt, wenn ich während der Waschstraße im Auto bleiben konnte und den Geräuschen zugehört habe.“ Jede Person erzählt Anekdoten aus der Zeit, als es noch Autos gab. Kurz möchte ich glauben, dass das wahr sein könnte.
Das Experiment „Final Celebration“ ist das Ergebnis eines kollektiven Prozesses künstlerischer Forschung. Es wurde im Rahmen von „NULLNULLEINS” entwickelt – einem interdisziplinären Labor an der Hochschule für Musik und Tanz Köln unter der Leitung der Komponistin Brigitta Muntendorf (langjährige Kollaborateurin der Choreografin Stephanie Thiersch). Dieses Mal hat sie mit dem Dirigenten und Posaunisten mit dem Schwerpunkt Neue Musik Thomas Moore zusammengearbeitet. Über mehrere Monate haben Studierende aus Komposition, Tanz, Musikwissenschaft, Interpretation und Medienkunst gemeinsam eine Performance entwickelt. Entstanden ist dabei kein Stück im klassischen Sinn.
Dystopischer Rundgang
Das dystopische Setting: 2037 wurden Autos komplett verboten – heute wird ihr Gedenktag gefeiert. Mit Timetable und Lageplan ausgestattet, navigiert sich das Publikum durch einen Parcours aus postautomobilen Miniaturen: Green-Screen-Selfie-Spot, Drive-Inside-Entspannungsraum mit iPad und Lutschbonbons, ein programmiertes Videospiel – alles Eigenentwicklungen der Nachwuchskünstler*innen.
Beim „Car-Yoga“ mache ich statt des herabschauenden Hundes den „SUV“ und werde mit sanfter Stimme an den Schulterblick erinnert. Ich muss lachen. Die Einzelideen sind clever. Sie greifen verschiedene Dimensionen des Automobils auf: als Statussymbol, als Ort von Intimität, als kultureller Mythos. Sie spielen mit Zitaten aus Pop, Film, Konsumwelt und Körperpraxis. Die Verbindungen zwischen den Elementen dagegen erscheinen zufällig und wie halb fertige Prototypen.
„Final Celebration“ besteht aus Stationen, Szenen, Interfaces und performativen Setzungen. Ein Happening. Die Performenden laufen in mit Spiegeltape beklebter schwarzer Kleidung durch das triste Ambiente, das an eine Firmenfeier mit Futurismus-Motto erinnert. Ferngesteuerte Autos fahren herum. Es gibt Auto-themed Karaoke und Videos und Getränke – nein, die nicht. Warum eigentlich keine Car-ctails?
The Power Of Cars
Die Räume sind offen, das Publikum bewegt sich frei. In einer sogenannten „Erinnerungshalle“ läuft ein Video mit Unschärfen, Verzerrungen, grauen Schleiern. Eine klassische Sängerin schreitet durch das Publikum, ihre Stimme schichtet sich auf: „Traces of … absence“. Absence of Cars? Wo bin ich hier gelandet? Das alles wirkt extrem absurd. Im Hintergrund grölt jemand „Baby, You Can Drive My Car“ am Karaokestand. Das „Anything goes“ der Performance-Kunst wird hier gefeiert. Allerdings auch zu dem Preis, dass manche Dinge beliebig wirken, manche albern. „Final Celebration“ hat Charme, Witz, poetische Momente – aber findet dabei keinen Widerstand, keine Dringlichkeit. Zwischendurch fragt mich eine Person, ob es schon vorbei ist.
Zuletzt versammeln sich alle um die Main-Stage für eine bedeutungsvolle Rede: „Welche Räume öffnen Autos – und welche nehmen sie ein?“ Kapitalismuskritik klingt an, aber der Abend kann sie nicht stemmen. Er ist am Ende weniger eine Feier als die Simulation einer solchen. Als Möglichkeitsraum, der sich in seiner Offenheit verliert, bildet das Format damit – womöglich etwas unabsichtlich – unsere Gegenwart ab: Auch die ist ja aufgeladen von politischen Entscheidungen, die sprunghaft sind. Irgendwie random. Und irgendwie sehr verunsichernd.
Dieser Text entstand im Rahmen des Projekts „Bewegungsmelder – Nachwuchswerkstatt für Tanzjournalismus aus NRW“, einer Kooperation von tanznetz mit dem Masterstudiengang Tanzwissenschaft des Zentrums für Zeitgenössischen Tanz (ZZT) an der Hochschule für Musik und Tanz Köln und dem nrw landesbuero tanz.
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