Leitungswechsel
Katharina Christl übernimmt Leitung der Palucca Hochschule Dresden
Es gibt wohl kaum etwas Schöneres als ein dankbares Publikum. Gefühlt seit Corona sitzt es in jedem Theater. Keine Vorstellung mehr, die nicht in Standing Ovations der Begeisterung endet. Daran lässt sich nicht herumkritteln, trotzdem wirft es die Frage auf, ob das Publikum unkritisch geworden ist. Oder eben „nur“ hungrig nach der Kunst.
Im Fall des neuen zweiteiligen Ballettabends an der Semperoper Dresden scheint der Enthusiasmus des Publikums kritische Stimmen kaum hörbar zu machen. Dabei fällt schon der Auftakt mi „Noetic“ von Sidi Larbi Cherkaoui völlig unaufgeregt und geradezu emotionsarm aus. Seit ihrer Uraufführung in Göteborg 2014 hat die Arbeit zwar keinen Staub angesetzt, aber auch nicht an eventueller Relevanz gewonnen. Dafür ist sie zu allgemeingültig.
In einem cleanen, weißen Raum, der wie eine Kopie von Forsythes neutralem Setting für „The Second Detail“ wirkt, erscheint das Ensemble in genauso nüchternen, dunklen Kostümen wie auf die Bühne geschüttete Bausteine. Die Choreografie bleibt lange geradezu beliebig, gelegentlich stolziert nur mal Christian Bauch so souverän wie abwesend auf Heels diagonal durchs Bild. Später trägt er sie in der Hand. Das Wechseln von Schuhen spielt immer wieder eine Rolle. Welche, bleibt offen.
Vermessungsversuch
So richtig zu Inhalt findet „Noetic“ erst, als die Tänzer*innen am vorderen Bühnenrand liegende flache, lange Kunststoffstreifen aufnehmen und in rechten Winkeln auf dem Bühnenboden zu einem unregelmäßigen Muster auslegen. Akustisch ist das lebhaft gestaltet; die Sächsische Staatskapelle unter der musikalischen Leitung von Charlotte Politi gönnt sich einen lockeren Dialog mit Shogo Yoshii, der mit Taiko Trommeln und dem japanischen Streichinstrument Kokyū eigene Klangfarben mitbringt. Ein Gesangspart (Miriam Andersén) fügt lateinische Passagen von Platon und Horaz dazu. Intellektueller Überbau.
„Zahlen sind real.“ Mit diesen Worten beginnt Christian Bauch sprachlich, was „Noetic“ dann auch räumlich versucht. Es ist eine Art Vermessungsversuch, eine Sichtbarmachung von Dimension, von Raum und darin verstreichender Zeit. Die Rechtecke der Muster am Boden weichen einem Fünfeck. Weiter geht’s in die dritte Dimension. Bögen, dann Ringe. Es ist die Schönheit der Mathematik. Deutsche Sprechtexte überlagern sich mit ihren englischen Versionen (gesprochen von Mira Speyer). Gleichzeitig werden die Bewegungen mechanisch, eckig, maschinell. Ein Ticken in der Musik (Komposition: Szymon Brzóska). Diese zusätzlichen Requisiten, sie wirken, als würden sie Bewegungsmuster erst recht sichtbar machen wollen, anders, für einen Moment länger. „Understanding that beautiful stuff“ heißt es irgendwann im Text. Aber wozu eigentlich? Ist schön nicht genug? Gegen Ende hin setzen die Tänzer*innen die langen Streifen zu einer Kugel zusammen, zur perfekten Form. In ihrem Innerem: Christian Bauch, mit ein paar letzten kleinen Gesten der rechten Hand. Dann ist auch dieser Versuch, die Dinge zu verstehen, vorbei. Was bleibt, sind nüchterne Bilder, ein bisschen Geometrie.
Etwas emotionaler, aber trotzdem genauso zurückhaltend widmen sich Imre und Marne van Opstal in ihrer Uraufführung „November“ dem Phänomen des Windes. Als zentrales Element auf der Bühne hat dafür Boris Acket ein riesiges, sanft fließendes Gewebe installiert, das zu Beginn von den Traversen erst in den Schnürboden gezogen wird. Gerade in diesem Haus mag man sich von diesem leicht transparenten Material an die Schleier in Johan Ingers „Schwanensee“ erinnert fühlen.
Frei, ohne Ballast
Der November als Herbstmonat, der das Ende des Jahres ankündigt, der Sommer ist längst Geschichte. Ungemütlich und düster. Daraus schöpfen die van Opstals eine Art emotionaler Stille und setzen das Ensemble zu Beginn reglos auf die in schwarz gehaltene Bühne. Alles ruht. Die knappen, hautfarbenen Kostüme (auch von den van Opstals) lassen die Tänzer*innen nackt wirken, offen, frei, ohne Ballast. Für diesen thematischen Ansatz drängt sich eine Komposition von Arvo Pärth direkt auf. Zwischen dessen vorwiegend sanften Klängen sitzt Rauschen; es könnte Regen sein. Später meint man, Vogelgezwitscher zu hören. Es scheint aber vor allem eine Art Erinnerung daran zu sein, nicht direkt „naturalistisch“ sind die Klänge.
Viel Arbeit haben die beiden Choreograf*innen gemeinsam mit Acket in die Konzeption des riesigen Schleiers gesteckt. Dessen Bewegungen sind genauestens abgestimmt. Jeder noch so sanfte Hauch bewirkt hochästhetische Effekte im schlichten Licht von Tom Visser. Der Schleier dreht sich; das Ensemble reagiert, agiert um ihn herum. Leicht lenkt ein solches, großzügig dimensioniertes und bewegliches Bühnensetting von der eigentlichen Choreografie ab. Am Rand einer Probe zeigte sich Imre im Gespräch diesbezüglich unbeeindruckt. Ihre raumgreifende Choreografie bemüht sich aber auch gar nicht, diesem Effekt etwas entgegenzusetzen. Immer wieder ein Verharren, Innehalten, in den Moment hineinlauschen. Als würde Zeit nicht vergehen und wäre Stille greifbar. Ein Gewitter als dramaturgischer Höhepunkt unterbricht die meditative Atmosphäre entgegen möglicher Erwartung nicht. Hier will niemand mehr etwas. Noch ein gelungenes Duo, dann ist Schluss.
Das ist choreografisch solide gemacht, bringt aber nichts Neues. Alles plätschert so vor sich hin, ohne über sich selbst hinaus zu verweisen. Aber vielleicht ist das zur Abwechslung auch mal nicht ganz so schlecht. Unruhe gibt’s allenthalben genug.
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