Schwelgen auf Flügeln der Vergangenheit

Das Bayerische Staatsballett zeigt zur Ballettfestwoche den Dreiteiler „Wings of Memory“

Getanzt wird fantastisch in dieser einmaligen Vorstellungsserie und Jiří Kyliáns „Bella Figura“(1995), Sidi Larbi Cherkaouis „Faun“ (2009) und Pinas Bauschs „Das Frühlingsopfer“ (1975) wirken frischer und sind stärker als manche zeitgenössische Kreation der letzten Zeit.

München, 18/04/2025

Schönheit gibt es so gut wie überall zu finden. Im Tanz tritt sie sogar dort auf, wo es mit extremer Brutalität gnadenlos zugeht. Interpret*innen können dann im Furor ihrer Performance sich selbst und den Zustand ihrer Körper außer Kontrolle geraten lassen. „Wings of Memory“ – das an sechs Abenden in Folge wiederholte Staatsballett-Programm der diesjährigen Ballettfestwoche – quillt schier über vor Momenten, die das Zeug haben, beim Publikum Wohlgefallen auszulösen – aber auch zu verstören. 

Jiří Kyliáns „Bella Figura“

Dieser Abend mit Unikatcharakter wird von der Münchner Wiederaufnahme von Jiří Kyliáns „Bella Figura“ eröffnet. Das Stück beginnt bereits vor Beginn: Bei offenem Vorhang stimmen sich die Akteure mit ihren Körpern auf die Vorstellung ein, noch bevor die Zuschauer*innen Platz genommen haben. Dann übernehmen Musik (vom Band), Licht und schwarze Vorhänge, die den Raum mal weiten, mal verengen, die Regie. Margaret Whyte verliert den Boden unter den Füßen, während António Casalinho ebendort in Rückenlage nur mit sich, seinen Armen und Beinen beschäftigt ist. In ihren Bewegungen sind die neun Tänzerinnen und Tänzer beredt wie ein Wasserfall. Was sie erzählen, bleibt streckenweise jedoch surrealistisch verrätselt.

In den ersten Pas de Deux – getanzt von Madison Young und Osiel Gouneo zu „Stabat Mater dolorosa“ von Pergolesi – mengt sich Casalinho als Dritter wenig später ein. Gouneo wechselt als Partner zu Elvina Ibraimova. Abgelöst werden sie von Ksenia Shevtsova und Jakob Feyferlik. Bevor nach und nach alle in rote Reifröcke schlüpfen und sich zwei Frauen in einem durch Hänger zum Ausschnitt verkleinerten Bühnensegment für einen gedehnten intimen Augenblick begegnen, taucht Casalinho nun an der Seite von Carollina Bastos erneut wie aus dem Nichts auf. Zum Schlussduett der beiden – einem Spiel mit Makeln, symbolisiert im wiederholten gegenseitigen Runterdrücken hochgerutschter Schultern – verstummt die Musik. Man vernimmt bloß noch das leise Lodern in den zwei seitlich aufgestellten Feuerschalen – platt und überwältigt von einer Manifestation exorbitanten Könnens. Mehr „Bella figura“ – also guten Eindruck hinterlassen – kann ein Ensemble nicht.

Sidi Larbi Cherkaoui: „Faun“

Eine auflockernde Scharnierfunktion hat im Anschluss Sidi Larbi Cherkaouis „Faun“. Der Blick auf die Bühne mit gemalten Bäumen im Hintergrund bleibt hier stets gleich. Nur die Lichtstimmungen verändern sich wie an einem sonnigen Tag irgendwo mitten im Wald. Animierte Glühwürmchen sorgen für etwas romantischen Kitsch. Das Orchester begleitet ab nun live erstmals unter Leitung von Andrew Litton (Musikdirektor des New York City Ballet). Impressionistisch ist die von Debussy zugrunde gelegte, gleichnamige Komposition. Doch Margarita Fernandes und António Casalinho verweigern sich in ihrer fabelhaft kreatürlich-erdverbundenen Interpretation der zu erwartenden unschuldig-verspielten Leichtigkeit.

Beide haben als junges Paar im Privatleben gewiss ihre eigene starke Geschichte. Auf der Bühne stellen sie nun eine völlig andere, weniger kopfgesteuerte Beziehungsbeschaffenheit aus, die mehr die Qualität von Verbundenheit und die körperliche Erkundung einer engen, temporären, ja urtümlichen Zweisamkeit betont. Darin schwingt archaisches Pathos und auch Schwere mit – angefangen bei den Soli, mit denen sie sich nacheinander als Faun (Musik: Claude Debussy) und Nymphe (Musik: Nitin Sawhney) einführen. Oft blicken sie erstaunlich ernst aneinander vorbei, während sich ihre Körper schier turnerisch und wachsweich derart ineinander verflechten, dass sie wiederholt zu einer Einheit verschmelzen und die unglaublichen Verschlingungen ihrer Arme und Beine visuell kaum mehr zu entwirren sind.

Sanftheit, Übermut und wunderbare Unisono-Passagen verleihen dem stilistisch ungewöhnlichen, sehr dynamischen und bisweilen fast athletischen Duo weitere markante Akzente. In das letzte Sich–Übereinander-Zusammenfalten packen Fernandes und Casalinho ein Versprechen. Er erhebt sich und geht ihr den Rücken zugewendet auf Abstand. Sie behält Bodenkontakt und streicht sich übers Haar. Den Kontakt suchen bloß noch beider Hände. Das hat eine geradezu magische Kraft. Und es lässt Zhanna Gubanova und Frederick Stuckwisch als zweiter Besetzung viel Spielraum, ihrerseits eine Begegnung im Morgengrauen bis zum Abend nicht weniger eigen zu gestalten.

Bereits im Anschluss an die Premiere von „Wings of Memory“ ernannte Ballettdirektor Laurent Hilaire die ukrainische Demi-Solistin Gubanova zur Solistin. Dass die Prinzipals António Casalinho und Madison Young sowie Solistin Margarita Fernandes nächste Spielzeit zum neu formierten Wiener Staatsballett unter der neuen Direktorin Alessandra Ferri wechseln, wurde nur drei Tage später bekannt.

Pina Bausch: „Das Frühlingsopfer“

Musikalisch zart und fast harmlos beginnt „Das Frühlingsopfer“ von Pina Bausch. Ein junges Mädchen in einem dünnen Hängerkleidchen liegt bäuchlings auf der Erde. Unter ihr ist ein rotes Tuch ausgebreitet. Die Stimmung ändert sich, sobald weitere Frauen herbeirennen. Der rechts und links von Scheinwerfern gesäumte Raum wird zur Arena eines unbarmherzigen Rituals. Den Gesichtern der Tänzerinnen ist das Wissen um etwas Schreckliches, das unabwendbar eintreten wird, bereits abzulesen. Fürs Publikum sehenswert ist davor schon das „Vorspiel“, wenn ein beachtlicher Stab von Bühnenarbeitern während der gesamten zweiten Pause sechs Container voller Torf auf ein zuvor angenageltes Tuch kippt und dann mit Schaufeln und Rechen gleichmäßig auf dem Podium verteilt. 

Bauschs Umsetzung von Strawinskys „Sacre“ aus dem Jahr 1975 gilt längst als ein ikonisches Werk. Brachial und schonungslos fordert es den beteiligten 32 Tänzerinnen und Tänzern alles ab. Aus dem Verbund vor maskuliner Energie schier berstender Männer löst sich früh Soren Sakadales, der durch abruptes Zupacken den Tod einer Frau, des Opfers, bestimmt. Das Auswahlverfahren vollzieht sich in gewaltigen emotionalen Schüben, was bisweilen heftig anzusehen ist: Weiche Armbewegungen schlagen um in geballte Fäuste, die wie Messer in die Magengruben fahren. Tänzer gehen zu Boden und richten sich verdreckt wieder auf. Kurz setzt das Orchester aus. Es wird laut geschnauft und um Luft gerungen.

Tänzerisch ist das eine Wucht. Diese baut sich langsam auf wie ein Tsunami, an dessen Kamm sich das Ensemble – unmittelbar vor dem Bruch der Welle – kurz auf Achtsamtkeit und Trost besinnt. Auf völlig ungeschönte Weise wird gezeigt, was innerlich mit Menschen geschieht, die einerseits Angst ausgesetzt sind und sich andererseits gezwungen sehen, eine solche ausüben zu müssen. Erschreckend aktuell erscheint die darin thematisierte Suche nach einem möglichen Opferund wie erbarmungslos dabei vorgegangen wird. Die „Auserwählte“ am Premierenabend ist Laurretta Summerscales. Wie diese Primaballerina am Ende Weltschmerz, Todesfurcht, plötzliches Ausgestoßen-Sein und Anflüge von Irrsinn durch ihren Körper pulsieren lässt, ist nicht nur herzzerreißend, sondern Tanztheater pur.

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