„Zona Franca“ von Alice Ripoll, Tanz: Ensemble Companhia Suave beim International DANCE Festival München 

Mut und Power

Das München-Gastspiel der brasilianischen Gruppe Companhia Suave gehört zu den Höhepunkten von DANCE 2025

Alice Ripoll zeigt mit „Zona Franca“ auf mitreißende Weise, dass es ein Leben nach der Krise gibt. Und was für eines.

München, 03/06/2025

Zum Ausklang gab es Mut und Power. Wobei: So ganz stimmt das nicht. Das International DANCE Festival München, das erste unter der Leitung von Tobias Staab, ging am Wochenende eher depressiv zu Ende. Mit dem „Totentanz“ von La Veronal aus Barcelona, der eher wehleidigen als ausdrucksstarken performativen Rauminstallation „Ausland“ von Jefta van Dinther und mit einem zeitgenössischen Voguing-Klassiker von Trajal Harrell, dem die Tränen immer locker sitzen. Eine Extraportion Lebensfreude aber gab es kurz zuvor: Mit Alice Ripolls Cia. Suave und ihrem Stück „Zona Franca“ bekam die Laune in diesem politisch wie meteorologisch grauen Frühling einen Booster verpasst. Und prompt schien kurz darauf auch am Himmel die Sonne. 

Konfetti und Christbaumkugeln

Wie als Erinnerung daran, wie nahe Party- und Weltuntergangs-Stimmung manchmal beieinanderliegen, hängen über der Bühne 2 des Münchner Volkstheaters schwarze, schimmernde Riesen-Ballons. Später werden sie einer nach dem anderen platzen und vielfarbiges Konfetti und silberne Christbaumkugeln auf die weiße Spielfläche regnen lassen. In der linken hinteren Bühnenecke aber sind sechs Tänzer*innen schon jetzt am Feiern. Sie trommeln und klatschen, grooven und singen bereits, als das Publikum sich noch in die Sitzreihen fädelt. Die kleine brasilianische Clique neben mir würde am liebsten sofort mitmachen. Dem Rest sieht man es zumindest noch nicht an. 

Als die Companhia Suave 2014 gegründet wurde, fünf Jahre nach Ripolls erster Kompanie Rec, hat die Choreografin und Psychologin gezielt junge Menschen mit großer Affinität zu urbanen Tänzen gecastet, die man in den Favelas Rio de Janeiros auf der Straße lernt, wo unterschiedliche Traditionen und Stile nicht feinsortiert nebeneinanderliegen. Man eignet sich an, was zu den Gegebenheiten des eigenen Körpers passt. Falscher Respekt: Fehlanzeige! „Passinho“ – „kleiner Schritt“ heißt der brasilianische Mix aus allem, was Internet und Tradition so hergeben. Sehr flinke Füße tanzen irgendwas zwischen Samba, Funk und unzähligen weiteren Stilen, die nur Eingeweihte kennen und holen Elemente des Voguing, TikTok-Hypes und Breakdance-Battle-Vibes mit hinein. Aber niemand muss sie identifizieren oder gar auseinanderhalten können, um von dem Feuer, das die insgesamt acht Tanzenden hier entfachen, ergriffen zu werden. 

Freihandelszone

„Zona Franca,“ der Titel des Abends, heißt so viel wie „Freihandelszone“ und weist auf die Unerschrockenheit hin, mit der hier kopiert und kombiniert wird, was gefällt. Aber er meint auch die wiedergewonnene Freiheit nach der rechtsnationalen und menschenverachtenden Ära Bolsonaro und schreit uns gut gelaunt entgegen: „Es gibt ein Morgen!“. Und was für eines. Man darf halt bloß nicht in Selbstmitleid erstarren. Im Kölner Karneval gibt es den gerne auch von politischen Gruppierungen gekaperten Spruch „Arsch huh – Zäng ussenander“. Und den scheint die Truppe aus Rio zu leben. Unrecht erdulden und Klappe halten gilt nicht. Rassistische und sexistische Zuschreibungen? Machen sie zur mit Humor geschärften Waffe. Wenn frau in der besonders arschfixierten brasilianischen Gesellschaft sowieso auf den Allerwertesten gestarrt wird, zwinkert der den Starrenden munter zu: Eine der Tänzerinnen sitzt im Spagat auf einer hohen Bank, die rampennah vorbeigerollt wird, und lässt ihre Pobacken zur Musik hüpfen und ja: singen. Und auch alle anderen haben individuelle Superkräfte. Ein Tänzer winkt im Kopfstand auf eine Art mit den Beinen, dass sie wie überlange Arme an einem kopflosen Torso aussehen, ein anderer bläst den Bauch zum 9. Schwangerschaftsmonat auf und rafft ihn anschließend zu einem beleidigten Gesicht zusammen. Auf dem Bauch, dem Po oder in der Hocke über die Bühne hoppeln: Alles kein Problem! Und die größte Person auf der Bühne kann sich die Kleineren umstandslos unter die Arme klemmen oder über die Schulter hängen. Einiges davon mag unsere Maßstäbe der Political Correctness irritieren, aber wer sonst hätte das Recht, auf sie zu pfeifen, wenn nicht dieses diverse, queere und glänzende Ensemble? 

Der Abend hat auch leise Momente. In einigen Szenen agieren alle wie in Trance oder in Katerstimmung. Eine Torte wird gebracht, ein kleiner Fußball ins Publikum geschossen und ein rotes Fahrrad kreist in der Luft. Aber nicht alles lässt sich zweifelsfrei decodieren. Gegen Ende bilden sich vermehrt Karawanen und Menschenklumpen, die sich buchstäblich ineinander verbeißen. Hier kaut jemand an der eigenen Kleidung, dort landen gleich zwei Füße der Tanzpartnerin in einem Mund, und eine der Frauen saugt sich mit grotesk verzerrtem Gesicht an einer Männerbrust fest. Schwer zu sagen, ob damit auch wieder rassistische Vorurteile auf die Schippe genommen werden oder eine sich selbst zerfleischende, gierige Gesellschaft karikiert wird. Vielleicht hat man einander auch einfach zum Fressen gern?

Die Lust an der gemeinsamen Arbeit quillt dem Abend aus allen Poren, der auch mit einer großen synchronen Gruppenszene endet. 75 mitreißende Minuten durfte man mit dieser Gruppe eintauchen in eine fremde, sehr kraftvolle und eigenständige Welt. Schön war´s!

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