„Hallucinations of an Artifact“ von Mandeep Raikhy

Divers, diverser, am diversesten

Zum neuen Tanzfestival „Real Dance“ in Hannover

Angesichts der mehr als 1800 Besucher*innen zeigen sich die Veranstalter des neuen Festivals zufrieden. Das galt nicht für alle im Publikum.

Hannover, 29/01/2024

von Agnes Bührig

Auf die Rückwand der Bühne ist das Bild einer altägyptischen Bronze-Figur projiziert. Die voluminösen Augen und Lippen der jungen Frau sind geschlossen, der rechte Arm ist fast vollständig mit Armreifen bedeckt, den linken stützt sie in die Hüfte. Dünn und kantig kommt dieses „tanzende Mädchen“ daher, was drei Performer*innen aufgreifen: Zu wabernden und perkussiven Klängen winkeln sie Arme und Hände an wie im indischen Tanz. Dann erwacht auch die Skulptur zum Leben, die als eine der frühsten Zeugnisse des Tanzens im alten Ägypten gilt und über deren Eigentümerschaft Pakistan und Indien streiten. In der Projektion beginnt sie eine Choreografie in den Ruinen eines alten Gemäuers, dann wieder bewegt sie sich vor der Skyline einer Großstadt. Was wäre, wenn Sie heute leben – und tanzen würde?

Inklusive Aufforderung zum Nachdenken

Mit der Europapremiere von „Hallucinations of an Artifact“ des indischen Choreografen Mandeep Raikhy startete Real Dance, das Nachfolgeformat des fast vier Jahrzehnte von Christiane Winter erfolgreich geleiteten „Tanztheaters International“. Real Dance – den Festival-Titel versteht Festivalleiterin Melanie Zimmermann als inklusive Aufforderung an alle, darüber nachzudenken, was Tanz wirklich ist. Auf Kampnagel in Hamburg hat sich die studierte Kultur- und Tanzwissenschaftlerin zuletzt für die Netzwerkarbeit von Künstler*innen mit Behinderung sowie aus der Black Dance Culture stark gemacht. Dass sie sich selbst vertreten können, ist Melanie Zimmermann wichtig: „Wenn zeitgenössische Tänzer*innen oder Choreograf*innen mit Hip-Hop-Tänzer*innen oder -vertreter*innen arbeiten, passiert es häufig, dass diese sich nicht richtig inszeniert fühlen. Ihre Kultur wird im Prozess des zeitgenössischen Choreografierens etwas verändert. Deswegen ist es wichtig für mich, denen auch eine Stimme zu geben.“

Für das Hip-Hop-Stück „Apaches“ arbeitete Saïdo Lehlouh, der vom Streetdance kommt, daher auch mit für die Produktion gecasteten Tänzer*innen aus Deutschland zusammen. In „Lounge“ von Marga Alfeirão aus Lissabon und Berlin wurde lesbische Sinnlichkeit thematisiert. Der Tanzstil Vogueing, Ende der 1960er Jahre in New York von schwarzen und lateinamerikanischen Schwulen in der Ballroom-Szene etabliert, ließ sich beim „Cosmic Nights Kiki Ball“ von Parisa Mdani und Maurice Werner erleben.

Diversität als Herzensangelegenheit

Auch beim Publikum lag den Festivalmacher*innen die Diversität am Herzen: Vor etlichen Vorstellungen wurde angesagt, dass Menschen mit Autismus und chronischen Erkrankungen besonders eingeladen wären, Geräusche und das Rein- und Rausgehen während der Vorstellung seien kein Problem. Auf Aushängen wurde mitgeteilt, man behalte sich vor, Personen des Ortes zu verweisen, die u.a. queerfeindliche, ableistische oder misogyne Äußerungen treffen. Was als Sicherung eines „safe space“ für non-binäre Menschen gedacht war, wirkte auf viele im binären Publikum abweisend.

Real Dance wird von der Stadt Hannover (160.000 Euro), der Stiftung Niedersachsen (90.000 Euro) und dem Land Niedersachsen finanziert (45.000 Euro) und ist langfristig angelegt. Die nächste Ausgabe startet am 29. Januar 2025 in Hannover.

 

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