„RELATIVE CALM“ von Lucinda Childs / Robert Wilson

Feurig, halb wach und ganz anwesend

ImPulsTanz Wien 2023 – ein Resümee der ersten vier Tage

Esben Weile Kjær, Doris Uhlich, Lucinda Childs und Robert Wilson, Boris Charmatz sowie Liquid Loft & Bulbul zum Auftakt: So unterschiedlich können einzelne Arbeiten ausfallen.

Wien, 10/07/2023

Der Innenhof des Wiener Museumsquartiers ist voll mit Menschen an diesem feinen Sommerabend des 6. Juli 2023. Im Nachhinein wird man erfahren, dass über 5.000 Personen bei freiem Eintritt zur Eröffnung des 40. ImPulsTanz – Vienna International Dance Festival gekommen sind – ein starkes Zeichen für den zeitgenössischen Tanz. Eröffnet wurde der Abend mit der spektakulären Performance „BURN!“ von Esben Weile Kjær. Drei Feuerwehrmänner geraten mitten im Publikum in einen Kampf. Erst nach einer Schrecksekunde erkennt man, dass alles nur Show ist. Weiter kämpfend und tanzend bewegen sie sich durch die Masse langsam auf die Bühne zu. Auf der Bühne dann ein tänzerisches und pyrotechnisches Feuerwerk währenddessen sich die drei auch teilweise ihrer Uniformen entledigen. Fast perfekt gelingt somit die Überleitung zu Doris Uhlichs „more than naked“ – doch davor gab es noch die obligatorischen (Politikerinnen-)Reden.

2011 bot Doris Uhlich erstmals ihren Nackttanzworkshop bei ImPulsTanz an – damals noch in den Keller „verbannt“. 2012 war die Nachfrage groß, und so entstand gemeinsam mit den Workshop-Teilnehmer*innen 2013 „more than naked“. Zehn Jahre später steht die Performance als ImPulsTanz-Classic wieder am Spielplan – großteils mit den Darsteller*innen der Uraufführung – und ist nach 2015 auch heuer wieder zur Festivaleröffnung zu sehen. Zu harten Beats – Uhlich betätigt sich auch als DJane – werden die nackten Körper, die nicht unbedingt gängigen Körperidealen der Schönheits- und Fitnessindustrie entsprechen, ins Wackeln und Tanzen gebracht. Es geht hier um das Fleisch, das zittern soll. Beeindruckend sind Kraft und Ausstrahlung der Tänzer*innen unter denen sich auch drei Rollstuhlfahrer*innen befinden. Und beeindruckend ist auch die Chuzpe von Festivalintendant Karl Regensburger, zwei nicht unbedingt eingängige Stücke zu zeigen – doch das Publikum war begeistert!

Etwas ruhiger doch mit ebenso viel Energie dann am nächsten Abend „RELATIVE CALM“ im Wiener Volkstheater – eine Zusammenarbeit der Ikone des Postmodern Dance Lucinda Childs mit Robert Wilson, der Konzept, Beleuchtung, Video, Bühnenbild und Regie verantwortet. Der erste Teil des Abends zur Komposition „Rise“ von Jon Gibson stammt von 1981. Choreografie und Videodesign sind eine ausgezeichnete Verbildlichung der Minimal Music. Aus kurzen Sequenzen, bestehend aus Schritten, kleinen Sprüngen und Drehungen, werden immer längere. Dabei arbeitet Childs auch mit Wiederholung und Kanon. Die schlichten weißen Hosen und Shirts mit einem weißen Strich am Rücken (Kostüme von Tiziana Barbaranelli) verleihen den herausragenden Tänzer*innen des italienischen MP3 Dance Projects einen androgynen Touch. Die weiteren Teile des Abends stammen dann aus dem Jahr 2021. Bei Strawinskys „Pulcinella Suite“ dominieren die Farben Rot und Schwarz sowohl in den Kostümen, die auch italienisches Flair verströmen, als auch in Licht und Videoprojektion. Childs Choreografie beinhaltet italienische Volkstanzelemente und bleibt dabei gewohnt minimalistisch. Der letzte Teil des Abends zu John Adams’ „Light over water“ ist in Choreografie, Video, Licht und weißen Kostümen wieder sehr minimalistisch und entwickelt gerade dadurch eine meditative Sogwirkung. Zwischen den Gruppenstücken tritt Childs selbst auf. Ganz in schwarz gekleidet rezitiert sie mit unglaublicher Ausstrahlung kurze Auszüge aus Nijinskys Tagebüchern. Viel Applaus für diesen beeindruckenden Abend zu dem auch Wilson anreiste.

Gänzlich anders dann Boris Charmatz’ „SOMNOLE“ am Samstagabend im Wiener Odeon. Ausgangspunkt für das erste für sich selbst choreografierte Solo war der „schwebende“ Zustand zwischen Wachheit und Schlafen. So tanzt Charmatz teilweise mit (halb-)geschlossenen Augen, wirkt wie in Trance und dann wieder hellwach, wenn er wild über die Bühne springt oder eine ausgelassene Stepptanznummer zeigt. Dazu pfeift er – teils kann man Bekanntes wie unter anderem die Titelmelodie Ennio Morricones zum Italo-Western „For a few dollars more“, „My Way“ oder gegen Ende „Lascia ch’io pianga“ von Georg Friedrich Händel erkennen. Manchmal fällt er auch in einen Singsang, um so seine Bewegungen zu begleiten. Es ist eine sehr eigenwillige Energie, die an diesem Abend den riesigen Theaterraum durchflutet. Mit seiner großartigen Präsenz gelingt es Charmatz, das Publikum für 60 Minuten in seinen Bann zu ziehen und wird dafür mit langem frenetischem Applaus belohnt.

Sonntagabend dann die erste Uraufführung des Festivals durch Liquid Loft & Bulbul auf der Bühne des Wiener Burgtheaters. „living in funny eternity_L.I.F.E.“ nennt der Wiener Choreograf Chris Haring seine neueste Kreation, die teilweise an „Modern Chimeras“ von 2022 erinnerte. Haring sieht in dieser Ewigkeit wieder Mischwesen, die sich ständig zu verändern scheinen. Mittels zwei Live-Videoprojektionen, die sich teilweise überlagern, spielt er mit der Wahrnehmung. Nicht alles ist immer so, wie es auf der Leinwand erscheint. So werden einige Male die ausgezeichneten Tänzer*innen an einen Ausgangspunkt zurückgeworfen und entwickeln sich dann anders weiter. Oder eine Rolle wird jemand anderem zugeschrieben. Auch wenn der Kostümbildner Stefan Röhrle diese Ewigkeit bunt glänzend und schillernd sieht, so ist man sich nicht ganz sicher, ob das wirklich eine lustige Ewigkeit ist, in der die Personen doch gefangen scheinen. Den lauten Soundtrack dazu liefert die unkonventionell schräge österreichische Rockformation Bulbul. Ebenso viel Applaus!

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