Jubiläumsgala „50 Jahre Hamburg Ballett John Neumeier”. „Opus 100“ von John Neumeier, Tanz: Ivan Urban, Ivan Liska, Kevin Haigen, Alexandre Riabko

He did it his way

Jubiläumsgala „50 Jahre Hamburg Ballett John Neumeier”

Als Benefiz-Gala zugunsten der John Neumeier-Stiftung war dieser Ballettabend deklariert. Er geriet zu einem stellenweise berührenden Potpourri, bei dem auch ein neuer Choreografenpreis verliehen wurde.

Hamburg, 02/07/2023

Geplant war das so nicht. Eigentlich hätten neben dem Stuttgarter Ballett auch noch das Bolshoi Ballett und das Königlich Dänische Ballett nach Hamburg kommen sollen, um John Neumeier anlässlich seines 50-jährigen Jubiläums als Direktor, Chefchoreograf und Intendant des Hamburg Ballett die Ehre zu geben. Die Dänen sagten kurzerhand ab, weil sie mit Neumeiers „Othello“-Version nicht einverstanden waren, und das Moskauer Bolshoi-Ballett … na ja, das geht halt in Zeiten eines russischen Angriffskrieges auf die Ukraine nicht. Also kam stattdessen das Tschechische Nationalballett mit Neumeiers „Endstation Sehnsucht“ (siehe tanznetz vom 23.6.23), und es wurde kurzerhand eine Jubiläums-Gala zugunsten von Neumeiers Stiftung angesetzt. Die braucht dringend Geld, um die von der Stadt Hamburg zur Verfügung gestellte Villa im Mittelweg (siehe tanznetz vom 4.5.2022) zu renovieren und den Bedürfnissen der umfangreichen Ballett-Sammlung entsprechend zu gestalten. Auch hatten, so berichtete Neumeier selbst bei der Vorstellung des Programms für die vier Ballett-Festwochen (normalerweise dauern die Ballett-Tage 14 Tage), viele auswärtige Weggefährt*innen den Wunsch geäußert, ihm die Referenz zu erweisen, und dafür brauchte man ein konkretes Datum – nicht alles lässt sich in die ohnehin schon immer überladene Nijinsky-Gala am Schluss der Spielzeit packen. Es fand sich der 29. Juni.

Und so ging an diesem Abend in der Hamburgischen Staatsoper ein gut vierstündiges Programm über die Bühne, als Geschenk an den Jubilar, der – den Abend ausnahmsweise nicht selbst moderierend – der Stadt und ihrer Bevölkerung über die Jahrzehnte hinweg mit seiner Kunst so viele Geschenke gemacht habe, sagte Isabella Vertes-Schütter, Intendantin des Hamburger Ernst-Deutsch-Theaters und enge Freundin Neumeiers, die durch das Programm führte. Er habe viel gekämpft und gestritten, nun sei es an der Zeit, ihm etwas zurückzugeben. Das Programm sei eine Überraschung, die er, sonst ein ausgemachter Kontrollfreak, an diesem Abend aushalten müsse (was etwas verwundert, steht doch das Programm bereits seit Tagen im Internet, und das sicher nicht ohne Kenntnis des Chefs).

Los ging’s mit den Symphonischen Tänzen aus Leonard Bernsteins „West Side Story“, in der Neumeier als junger Mann 1960 noch selbst getanzt hatte. Sie sind Bestandteil von „Bernstein Dances“, einem Ballettabend, den Neumeier 1998 zu Ehren des Komponisten zusammengestellt hatte.

Im Anschluss daran folgte ein längerer Abschnitt, der zu den Ursprüngen von Neumeiers Karriere zurückführte: zu Sybil Shearer (1912-2005), der amerikanischen Tänzerin und Choreografin, in deren Kompanie Neumeier einst mittanzte und die sein eigenes Schaffen erkennbar mit beeinflusst hat, wie Filmausschnitte zeigten. Aleix Martinez und Charlotte Larzelere vom Hamburg Ballett hatten eigens zwei Soli von Sybil Shearer zu Musik von Frédéric Chopin (am Flügel: der wie immer zuverlässig einfühlsam begleitende Michal Bialk) und Benny Goodman einstudiert und ebenso delikat wie leichtfüßig serviert. Zu großer Form lief danach das Bundesjugendballett auf, das zu fetzig arrangierter Musik von Modest Mussorgsky, Samuel Goldenberg und Schmuyle für Saxophon, Klavier, E-Gitarre, Bass und Schlagzeug eine weitere Shearer-Kreation zeigte, choreografisch neu und sehr geschickt arrangiert von Ricardo Urbina (Gruppentänzer beim Hamburg Ballett) und Raymund Hilbert.

Eine von Isabella Vertes-Schütter verlesene Grußadresse von Günter Jena leitete über zu einem Ausschnitt aus der Matthäus-Passion („O Schmerz! Ich will bei meinem Jesu wachen“, stimmlich etwas wackelig gesungen von Klaus Florian Vogt, begleitet vom glänzend disponierten Vocalensemble Rastatt und den Hamburger Symphonikern unter Markus Lehtinen), getanzt von Karen Azatyan, Jacopo Belussi, Aleix Martinez und Edvin Revazov. Günter Jena, inzwischen 90 Jahre alt, hatte 1980 in seiner Funktion als Chorleiter und Kirchenmusikdirektor an Hamburgs St. Michaelis-Kirche (dem „Michel“) die seinerzeit gewagte und vielfach angefeindete Kreation eines Balletts auf sakrale Musik verteidigt und musikalisch begleitet – Neumeier widmete ihm in dankbarer Verbundenheit seine jüngste Kreation, „Dona nobis pacem“ zu Bachs h-Moll-Messe (siehe tanznetz vom 6.12.2022).

Es folgte eine Video-Grußbotschaft von Karen Kain, der ehemaligen Primaballerina und heutigen künstlerischen Direktorin des National Ballet of Canada, das eng mit Neumeier zusammenarbeitet und mehrere seiner Kreationen im Repertoire hat, darunter auch „Nijinsky“. Sasha Trusch, Alessandra Ferri und Karen Azatyan zeigten daraus den Pas de Trois auf dem Schiff, bei dem sich Vaslaw Nijinsky und Romola zum ersten Mal begegnen.

Danach eine weitere Video-Grußbotschaft, dieses Mal von Natalia Makarova, deren „Bajadère“-Version Neumeier vor vielen Jahren übernommen und in Hamburg gezeigt hatte. Liebevolle Neckereien paarten sich darin mit russischer Melancholie und Erinnerungen an die gemeinsame Arbeit.

Vor der Pause ein besonders emotionaler Moment: Ivan Liska, langjähriger Erster Solist beim Hamburg Ballett und danach Direktor des Bayerischen Staatsballetts in München, tanzte gemeinsam mit Kevin Haigen, ebenfalls früherer Neumeier-Solist und heutiger künstlerischer Direktor des Bundesjugendballetts, Neumeiers „Opus 100“, kreiert 1997 anlässlich des 70. Geburtstags von Maurice Béjart zu Musik von Simon & Garfunkel. Nach der ersten Hälfte zu „Old Friends“ übergaben die beiden ­– inzwischen selbst um die 70 – für „Bridge Over Troubled Water“ an Ivan Urban und Alexandre Riabko, die diesen Pas de Deux schon des öfteren bei Galas gezeigt haben. Und schlagartig wurde an diesen vier Tänzern augenfällig, was der Hamburger Spirit ist, der seine Wurzeln in John Cranko und dem Stuttgarter Ballett hat, wo Neumeier in den 1960er Jahren tanzte und erste choreografische Schritte unternahm: diese sehr besondere, das Individuelle herausarbeitende Bühnenpräsenz, diese Hingabe an den Tanz, gepaart mit einer grundsoliden, hocheleganten Technik. Einmal mehr war hier zu bestaunen, in welcher Bestform vor allem Alexandre Riabko immer noch tanzt. Kein Wunder, dass die Wellen des Jubels gerade hier besonders hochschlugen. Das Hamburger Publikum vergisst seine Lieblinge nicht…

Nach der Pause dann eine Video-Grußbotschaft von Marcia Haydée, die wegen der Feierlichkeiten anlässlich des 50. Todestages von John Cranko in Stuttgart nicht abkömmlich war. Mit der ihr eigenen umwerfenden Ehrlichkeit und Direktheit schilderte sie, wie Neumeier sie vor eben diesen 50 Jahren aus dem lähmenden Schockzustand nach dem Verlust Crankos nachgerade gerettet hat, indem er Stücke für das Stuttgarter Ballett kreierte. Eigentlich hätte sie sich damals ganz aus dem Tanz zurückziehen und in den Schoß ihrer brasilianischen Familie zurückkehren wollen, gestand die große Ballerina des 20. Jahrhunderts. Neumeier habe sie jedoch an die gemeinsame Arbeit erinnert, und dank seiner sei ihre Zuversicht zurückgekehrt. Besonders amüsant dabei die Anekdote, wie die Idee zu Neumeiers wohl berühmtestem Klassiker entstand: nach einem anstrengenden, langen Arbeitstag im Ballettsaal in einem kleinen türkischen Restaurant, wo Marcia vor Erschöpfung kaum essen konnte. Neumeier, der zuvor mit der Idee gespielt hatte, ein Stück über die ägyptische Königin Kleopatra für sie zu machen, erklärte spontan: So müde, so ausgelaugt und fertig wie sie jetzt dreinschaue, müsse sie in der Schlussszene seines neuen Balletts aussehen, aber nicht als Kleopatra, sondern als Marguerite in „Die Kameliendame“… Und so gab es natürlich einen Ausschnitt aus diesem zeitlosen Werk, den violetten Pas de Deux zwischen Armand und Marguerite, leider etwas zu glatt, zu perfekt, zu manieriert getanzt von Amandine Albisson und Audric Bezard vom Ballett der Pariser Oper – da fehlte die Seele.

Das Hamburger Kammerballett, ein Ensemble aus ukrainischen Tänzer*innen, brachte sodann „Requiem“ auf die Bühne, ein Stück von Edvin Revazov zu Musik von Henry Górecki und einer frühen Aufnahme von „Where have all the flowers gone?“ mit Joan Baez. Es beschäftigt sich – was denn sonst? – mit der Sinnlosigkeit der Kriege, dem unnötigen Sterben auf dem Schlachtfeld. Und auch wenn Edvin Revazov durchaus in der Lage ist, eine eigene choreografische Handschrift zu entwickeln, so sah man doch immer wieder überdeutlich auch den Einfluss seines Chefs.

Man konnte dieses Stück schon als Vorzeichen nehmen für das, was danach kam: die Preisverleihung des neu aus der Taufe gehobenen „John Neumeier Preises für Choreografie“, üppig ausgestattet mit insgesamt 50.000 Euro von der Hapag Lloyd Stiftung. Zur Hälfte wird diese Summe direkt ausbezahlt, die andere Hälfte dient der Finanzierung eines neu zu kreierenden Werkes für das Bundesjugendballett. Einziges Jury-Mitglied bei der Auswahl des Preisträgers: John Neumeier. Und an wen ging dieser Preis? An Neumeiers Ersten Solisten Edvin Revazov, der gerade erst im Frühjahr das Hamburger Kammerballett gegründet hatte (siehe tanznetz vom 17.4.2023). Als Künstler sei man immer auch Mensch, der seine Kunst für menschliche Zwecke benutzen müsse, begründete Neumeier seine Wahl. Er habe sich viele junge Choreografen angeschaut, in Houston und Chicago und sonst auf der Welt, aber dieser erstmalig verliehene Preis gebühre Edvin Revazov, der mit dem Hamburger Kammerballett eine zutiefst menschliche Arbeit für die Kunst leiste. Eine Entscheidung, der durchaus ein Gschmäckle anhaftet. Ob sich der Hamburger Ballett-Intendant angesichts der enormen Arbeit, die diese umfangreiche Jubiläums-Spielzeit und noch dazu die üppigen vier Ballett-Festwochen mit sich gebracht haben dürften, tatsächlich einen profunden Überblick über die internationale Szene junger Choreografen hat verschaffen können? Dort wimmelt es ja von hochbegabten Talenten, die gerade dem Bundesjugendballett die dringend benötigte Frischzellenkur angedeihen lassen könnten. Dass ausgerechnet die erste dieser neuen Auszeichnung an ein Hamburger „Eigengewächs“ ging, schwächt das Renommée des gesamten Preises, und man versteht auch nicht so recht, warum die Hapag Lloyd Stiftung nicht darauf bestanden hat, die Jury mit mehreren Personen zu besetzen.

Es folgten Ausschnitte aus Neumeiers 1996 geschaffenem „Yondering“, das Schülerinnen und Schüler der Ballettschule des Hamburg Ballett charmant und mit großer Akkuratesse auf die Bühne brachten. Der Genuss wäre noch vollkommener gewesen, hätte da nicht der Bariton Thomas Hampson etwas knödelig live und mit Microport gesungen, begleitet – ebenso elektronisch verstärkt – von einem Ensemble aus Violine, Klarinette, Cello und Klavier. Was für ein Kontrast dagegen das Vocalensemble Rastatt, das als Remineszenz an den Jubilar unter seinem Chorleiter Rüdiger Speck Gustav Mahlers „Urlicht“ aus „Des Knaben Wunderhorn“ ungeheuer sensibel und differenziert a capella pur und unverstärkt zu Gehör brachte.

Und schließlich gab es doch noch eine Überraschung: Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda betrat zusammen mit Marianne Kruuse, Weggefährtin Neumeiers schon in Stuttgarter und Frankfurter Zeiten, langjährige Erste Solistin des Hamburg Ballett und später stellvertretende Leiterin der Ballettschule, die Bühne. Es sei schwierig, einem so „durchgeehrten“ Künstler wie John Neumeier noch irgendeine Ehrung zuteil werden zu lassen, die er noch nicht habe, sagte Brosda in der ihm eigenen launigen Art (niemand unter den Hamburger Politiker*innen kann so geschliffen und so pointiert freihand formulieren wie er!). Das „Spiel der Ehrungen“ sei bei ihm schlicht „durchgespielt“. Dennoch: Neumeier habe die Gabe, in Worte, Töne und Bewegungen zu fassen, für was man keinen eigenen Ausdruck habe. Die Hansestadt sei zutiefst dankbar für diese Ballettwelt, die er in den vergangenen 50 Jahren geschaffen habe. Und so habe sich eben doch noch eine Ehrung gefunden, die er noch nicht erhalten habe, die aber Marianne Kruuse bereits zuteil geworden war: die Ehrenmitgliedschaft der Hamburgischen Staatsoper. Der Ballettintendant nahm diese neuerliche Auszeichnung nicht ohne eine gewisse Rührung entgegen.

Und so war es nur folgerichtig, dass danach „My way“ folgte, eine Kreation von Stephan Thoss auf den Evergreen von Frank Sinatra, getanzt von Artem Prokopchuk und Emiliano Torres, beide Gruppentänzer beim Hamburg Ballett. „I did it my way“ lautete die Antwort von Neumeier auf die vielfach geäußerte Frage, wie er diese 50 Jahre geschafft habe. „My way“ – das bedeutete: Arbeit, Arbeit, Arbeit. Jeden Tag aufs Neue Ja sagen zu den Aufgaben, die zu bewältigen waren, zu der Arbeit an der Stange, zu den Proben, zum Kreieren und Choreografieren, zu den Vorstellungen. So einfach. So schwierig. So beachtlich.

Zum schmissigen Finale versammelte sich das gesamte Ensemble mit den Gästen zur „Candide“-Ouvertüre von Leonard Bernstein noch einmal auf der Bühne. Die Standing Ovations gerieten relativ kurz im durchaus mit großen Lücken besetzten Haus im Vergleich zu den Jubelorgien bei den sonstigen Vorstellungen im Rahmen dieser Ballettwochen (die regelmäßig fast komplett ausverkauft waren). Dass viele internationale Gäste zugegen waren, sich aber nicht auf der Bühne zeigten (z.B. Manuel Legris, Ballett-Chef an der Mailänder Scala, Sue Jin Kang, Chefin des Korean National Ballet und langjährige Primaballerina des Stuttgarter Balletts, Vladimir Derevianko, unvergesslicher Drosselmeier in Neumeiers „Nussknacker“ und langjähriger Chef des Ballett Dresden), weiß man eher aus den sozialen Medien, in denen diverse Fotos die Runde machen. Bleibt zu hoffen, dass aus den doppelt so teuren Eintrittspreisen (bis zu 350 Euro kostete eine Karte) und dem Verzicht der Akteure auf die sonst üblichen Honorare ein bisschen Geld in die Kasse der Stiftung gespült wurde.

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