„Britten Tanz“ von Edvin Revazov, Tanz: Ensemble

Gut gemeint

Das Hamburger Kammerballett debütiert mit „White Noise“ von Edvin Revazov

Im First Stage Theater wurde am 14. April die erste Produktion mit sieben festen Ensemblemitgliedern und einigen Gästen aus der Taufe gehoben. So richtig überzeugen konnte das (noch) nicht.

Hamburg, 17/04/2023

Die Idee entstand im Sommer 2022 in Folge des Ukraine-Kriegs, als einige Mitglieder des Ukrainischen Nationalballetts Kiew, die auf einer Tournee von den Ereignissen überrascht wurden, in Hamburg Zuflucht fanden. Damals gab es mehrere Benefiz-Vorstellungen in der Kampnagelfabrik  – ein schönes Zeichen der Solidarität, zumal in Neumeiers Kompanie mehrere Ukrainer tanzen (z.B. Sasha Trusch und Alexandre Riabko). Schon damals hatte sich Edvin Revazov, Erster Solist beim Hamburg Ballett und auf der Krim geboren, zusammen mit anderen Ensemblemitgliedern darum bemüht, die Kolleg*innen zu unterstützen. Inzwischen haben sieben von ihnen im Alter zwischen 20 und 31 Jahren in Hamburg eine neue Heimat gefunden – und bilden jetzt die gemeinnützige GmbH „Hamburger Kammerballett“. Sie können gemeinsam mit dem Hamburg Ballett trainieren und abends die Studios des Ballettzentrums für Proben nutzen. Edvin Revazov zeichnet als künstlerischer Leiter des Ensembles verantwortlich und hat die beiden Stücke für den ersten Ballettabend choreografiert, die jetzt im Hamburger First Stage Theater unter dem Titel „White Noise“ zu auf der Bühne gespielter Kammermusik gezeigt wurden.

Da ist zum einen „Britten-Tanz“ zum Streichquartett f-Dur von Benjamin Britten, eine  Zusammenarbeit mit dem Opera Estate Festival in Bassano del Grappa (Italien), gespielt (wie auch das nachfolgende Stück) von Musiker*innen der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Blickfang sind vier über zwei Meter hohe auf der Bühne verteilte Hocker aus Stahlrohren. Auf zweien sitzen Geiger, auf den dritten hangelt sich – mit Hilfe einer Leiter – eine Tänzerin und bleibt dort sitzen. Die Cellistin sucht sich unter einem der Stühle ihren Platz, während der letzte noch freie Hochsitz der 1. Geige vorbehalten ist, die als letzte dazukommt, dabei aber ihr Instrument auf dem Boden liegen lässt. Es wird ihr von einem Helfer schwungvoll zugeworfen, was natürlich schief geht, und die Geige zerschellt auf dem Boden. Natürlich ist das alles nur ein Gag, und die echte Violine wird mit der gebotenen Vorsicht schließlich doch noch angereicht. Das ruft zwar durchaus Heiterkeit beim Publikum hervor, wirkt aber doch irgendwie etwas bemüht.

In rostfarbenen Trikots, schwarzen Strumpfhosen und mit Spitzenschuhen (die Frauen) sowie in schwarzen Hosen mit schillernden Schärpen (die Männer) kommen die Tänzer*innen dann auf die Bühne (wer für Bühnenbild und Kostüme verantwortlich zeichnet, ist dem Programmheft leider nicht zu entnehmen). Im Ensemble, als Pas de Deux oder Solo entfalten sie über die vier Sätze des Streichquartetts hinweg eine etwas elegisch angehauchte Choreografie – mal heiter, mal nachdenklich, mal schwermütig, mal aufgekratzt. Immer wieder erinnert die Bewegungssprache an die Handschrift des Hamburger Ballett-Intendanten, auch wenn Edvin Revazov hier durchaus neue, eigene Elemente eingearbeitet hat.

Das ist alles ganz ordentlich getanzt, und doch merkt man dem Ensemble an, dass es mit diesem Stil nicht so richtig vertraut ist, dass so manches noch nicht wirklich ausgearbeitet wurde – da war die Zeit dann vielleicht doch zu knapp. Was besonders augenfällig wird, wenn plötzlich bei den Männern ein bekanntes Gesicht auftaucht – Alexandre Riabko, langjähriger Erster Solist in der Hamburger Kompanie, sticht hier mit der ihm eigenen Eleganz und Ausstrahlung heraus. Dass es sich um ihn handelt, ist allerdings nur für Insider erkennbar – er wird weder im Programmheft noch irgendwo sonst erwähnt.

Nach der Pause dann ein Werk, das schon eher erahnen lässt, dass in Edvin Revazov ein durchaus begabter Choreograf steckt: „White Noise“, das Stück, das dem Abend den Namen gegeben hat, zu eigens dafür komponierter Musik von Alexander McKenzie, dem künstlerischen Direktor des dänischen „Kammerballetten“. Als „white noise“ wird ein physikalisches Phänomen bezeichnet, das in einer konstanten Tonfrequenz das gesamte Spektrum des hörbaren Schalls enthält. In ähnlicher Weise möchte dieses Stück die Facetten menschlichen Seins umschreiben – was mal mehr, mal weniger gelingt.

Wieder beginnt es mit einem noch nicht von Musik begleiteten Stühlerücken auf offener Bühne: Eine Tänzerin trägt einen Stuhl (dieses Mal ist es ein normales hölzernes Sitzmöbel) herein, umtanzt ihn mit etwas rätselhaften Bewegungen, während das „weiße Rauschen“ aus einem Lautsprecher erklingt und sich Bühnennebel über das Geschehen legt. Schließlich holt die Tänzerin – bei weiterhin hellem Zuschauerraum – einen zweiten und schließlich einen dritten und vierten Stuhl herbei, die alle ebenfalls umtanzt werden. Erst als das Licht verlöscht, setzen sich vier Tänzerinnen auf die Stühle, und vier Tänzer legen sich darunter. Die Musik McKenzies eignet sich wunderbar zum Tanzen, und so entwickelt Edvin Revazov hier ein in vielen Teilen hoch ansehnliches Tableau menschlicher Eigenheiten und Stimmungen. Dabei stechen besonders die Herren mit kraftvoller Dynamik heraus, und man hätte sich von ihnen durchaus noch mehr Soli und Ensembles gewünscht. Und doch verströmt das alles eine bedrückende Schwere, eine große Melancholie und beklemmende Traurigkeit. Wenn das Kammerballett gegründet wurde, um Hoffnung auszustrahlen und Zuversicht – so macht sich beides an diesem Abend noch nicht breit.

Die Kompanie sei gegründet worden, so erklärt deren Geschäftsführerin Isabelle Rohlfs im Vorgespräch zur Aufführung, „um Künstler*innen im Exil ohne künstlerische Heimat und Perspektive“ eine solche zu bieten. Noch gebe es keine eigene Spielstätte, noch seien es – abgesehen von der aus Finnland stammenden Anna Solovei, die ihr Engagement in Russland aufgeben musste, „nur“ ukrainische Tänzer*innen. Es könne aber durchaus sein, so Rohlfs, dass auch aus anderen Kriegsländern geflohene Künstler*innen hier eine Zuflucht finden.

Der Name „Kammerballett“ sei gewählt worden, um auszudrücken, dass es sich um eine kleine Kompanie handele, die in Nischen produziere und an Orten auftrete, die für den Tanz nicht so typisch sind, zum Beispiel in der Kulturkirche Altona anstatt in der Staatsoper. Produziert wird auf Bestellung ­– beispielsweise für eine Preisverleihung der Humboldt-Stiftung oder für (Weihnachts)Feiern von Unternehmen. Unterstützt wird das Ensemble unter anderem von der Opernstiftung der Hamburgischen Staatsoper, der Hamburgischen Kulturstiftung, vom Deutschen Bühnenverein, dem Rotary-Club Hamburg und diversen Privatpersonen. Was nach den jetzt geplanten vier Vorstellungen im First Stage Theater folgt, ist noch ungewiss.

So gut gemeint diese Initiative ist – sie hat noch einen langen Weg vor sich, wenn sie sich langfristig behaupten und ein fester Bestandteil der Hamburger beziehungsweise der deutschen und europäischen Tanzszene werden möchte.

 

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