Großes Potenzial

Tänzer und Tänzerinnen des Hamburg Ballett zeigen eigene Werke

Hamburg, 11/04/2011

von Elisabeth Klingler

Wenn eine Kompanie einen der weltbesten Choreografen zum Direktor hat, stellt es für die Tänzer und Tänzerinnen schon eine Herausforderung dar, eigene Werke zu zeigen. Zehn Mitglieder des Hamburger Balletts konnte das zum Glück nicht schrecken. Sie setzten eine gute, alte Tradition fort, die John Neumeier schon seit vielen Jahren in Hamburg pflegt: „Junge Choreographen“ heißt die Reihe, in der nach zwei Jahren Pause sowohl ganz junge wie auch schon erfahrene Tänzer am 9. und 10. April im Hamburger Schauspielhaus ihre Kreationen zeigten. Und sie konnten sich wahrlich sehen lassen.

Es gehöre zur Ausbildung im Hamburger Ballettzentrum, dass die Schüler in den Theaterklassen 7 und 8 eigene Kreationen erstellen, betonte John Neumeier in seiner kurzen Einführung des Abends. Deren Werke waren vor kurzem im Ernst-Deutsch-Theater zu sehen (siehe tanznetz vom 2.3.2011 und 4.3.2011). Jetzt waren die Kompanie-Mitglieder dran – dieses Mal jedoch nicht auf Kampnagel, sondern auf der großen Bühne des fast 1200 Zuschauer fassenden Hamburger Schauspielhauses, was, so Neumeier, „den Beginn einer Kooperation mit dem Schauspielhaus“ markiere. Zusammen mit der Gründung des Bundesjugendballetts öffnen sich hier für Hamburg höchst erfreuliche Perspektiven. Das Kaleidoskop an Choreografien, das die Tänzer innerhalb von knapp drei Stunden aufblätterten, reichte vom schlichten Pas de deux bis zu größeren Ensembles mit 12-15 Tänzern.

Herausragend unter den Pas de deux: die Huldigung „Perhaps Whisper“ von Thiago Bordin an Joëlle Boulogne (sehr schön und liebevoll gepartnert von Carsten Jung), die zum Ende dieser Spielzeit ihre Bühnenkarriere beendet. Eine schlichte, und gerade deshalb sehr intensive Arbeit über den Abschied, das Festhalten und Loslassen. Und somit ein natürlich genau auf diese Lebenssituation zugeschnittenes Stück, das Joëlle Boulogne (mit Kurzhaarperücke à la Zizi Jeanmaire) mit der ihr eigenen Intensität auf die Bühne bringt und bei dem es einem manchmal schier das Herz zerreißt. In solchen Stücken wird einmal mehr klar, was für eine Verschwendung es ist, das Können, das Wissen, die Erfahrung und vor allem die Ausdruckskraft so großer Solisten nicht in einer „Kompanie der Älteren“ analog der zurzeit in München und Hamburg gegründeten Youngster-Ensembles weiter zu nutzen. Mindestens ebenso beeindruckend war die Arbeit der Hamburger Gruppentänzerin Miljana Vracaric auf das Streicher-Adagio von Albinoni: „Invisible Bonds“. Gemeinsam mit dem sehr jungen, sehr großen Florian Pohl entwickelt sie hier einen spannungsreichen Dialog mit einer sehr eigenen Bewegungssprache, der von Anfang bis Ende trägt und mit vielen feinen Facetten gespickt ist. Eine besonders positive Überraschung war auch die Arbeit von Edvin Revazov: „Coco Rosie“, ein Pas de trois mit dem blutjungen Lennart Radke auf Spitzenschuhen, Anna Laudere als graziler Sirene und Dario Franconi als männlichem Gegenpart. Auf dem Hintergrundprospekt zeigt Revazov verwischt-unscharfe Schwarz-Weiß-Fotos eines Paares, intensive Bilder der Liebe (fotografiert von Revazovs Bruder). Sie sind eine großartige Ergänzung zu den tanzenden Figuren, die sich auf der Bühne begegnen, trennen, wieder begegnen, einander umgarnen, fallenlassen, ignorieren, umwerben, verlassen. Anna Laudere und Dario Franconi laufen hier zu darstellerischer Hochform auf, und Lennart Radtke wirft sich leidenschaftlich in seine Funktion als Störfaktor und verbindendes Element zugleich. Das ist ein Stück, das man sich gerne gleich noch einmal angeschaut hätte.

Einer der Höhepunkte des Abends ist zweifellos Yohan Steglis „Looking for Wendy“. Es erzählt die Abenteuer eines Hirten auf der Suche nach dem rosa Schweinchen Wendy, das frecherweise geklaut worden ist. Stegli entfaltet hier ein einmaliges Gespür für präzise getimte Komik, er wuchert mit den Talenten seiner Tänzer (wunderbar komisch: Alexandr Trusch, zwei grandiose Derwische: Ivan Urban und Otto Bubeníček), und er integriert in dieses Feuerwerk der Einfälle auch noch auf Feinste eine Gruppe von hörgeschädigten Schülerinnen und Schülern des Bildungszentrums Hören und Kommunikation. Bei diesem Stück stimmt alles – Komposition, Choreographie, Humor, Licht, Bühnenbild – und die Tänzer werfen sich mit Wonne in diese poetische Geschichte. Ganz großes Kino! Beachtlich auch die New-York-Studie „My Big Apple in Blue“ von Lennart Radtke zur „Rhapsodie in Blue“ von Gershwin – das hat Schwung, Verve und Tempo, und auch wenn hier der große Lehrmeister choreografisch erkennbar Pate gestanden hat, so ist dies doch eine höchst respektable Arbeit des erst 21-jährigen Gruppentänzers.

Es ließe sich noch viel erzählen von diesem Abend: über die drei Grazien in weißen Hosenanzügen, die Aleix Martinez zu einem Stück der tschechischen Musikerin Iva Bittová über die Bühne wirbeln lässt; über die Anmut einer Samba auf Spitze von Mariana Zanotto (mit Thiago Bordin) – eine charmante Liebeserklärung an ihre gemeinsame Heimat Brasilien; über die Wandlungsfähigkeit der grandiosen Hannah Coates, die in fast jedem Stück besetzt war und dabei nie an Intensität und Frische verlor. Das Tuch des Schweigens hingegen breiten wir lieber über das Stück von Yuka Oishi, die bis zur Hälfte ihres „Breathing“ enorm viel Kreativität zeigt, dann aber in kaum noch erträglichen Schwulstkitsch abgleitet. Von dieser Tänzerin ist man aus den früheren Aufführungen der „Jungen Choreographen“ viel Intensiveres und Kreativeres gewohnt – und vielleicht haben hier die dramatischen Ereignisse in Japan dazu geführt, dass sie den Bogen einfach etwas überspannt hat. Es wäre nur zu verständlich. Nur ärgerlich war dagegen die Belanglosigkeit von Orkan Danns „My Dear Love“, der für das ewige Thema vom Kommen und Gehen zwischen Mann und Frau eindeutig zu viele Neumeier-Anleihen machte. Auch Braulio Álvarez gelang mit „An Urban Orchestration“ kein großer Wurf. Der positive Eindruck hingegen überwiegt diese Ausrutscher deutlich – und schließlich sind junge Choreografen keine arrivierten, fertigen Künstler. Getanzt war alles jedoch auf höchstem professionellem Niveau – und das zeigt, mit wie viel Eifer und Begeisterung die Tänzer und Tänzerinnen sich in diese Arbeit gestürzt haben, die sie zusätzlich zu den vielen Verpflichtungen bei den Vorstellungen in der Oper geleistet haben.

Da capo, bitte. Und nicht erst in zwei Jahren.

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