„Unio“ von Ilya Jivoy, Tanz: Kammerballetten

„Unio“ von Ilya Jivoy, Tanz: Kammerballetten

Konzertante Tänze

Die Christoph Lohfert Stiftung holte das dänische Trio Vitruvi mit dem Ensemble „Kammerballetten“ aus Kopenhagen in die Elbphilharmonie

„Neue Bahnen“: ein siebenteiliger Tanzabend zu Kammermusik im Großen Saal – eine Hommage an den Stifter Christoph Lohfert, der ein großer Freund der Kultur war, speziell des Tanzes und der Musik.

Hamburg, 12/04/2023

Normalerweise engagiert sich die 2010 gegründete und nach ihrem Stifter benannte Christoph Lohfert Stiftung im Bereich der Medizin und vergibt alljährlich einen mit 20.000 Euro dotierten Preis für praxiserprobte und nachhaltige Konzepte zur Verbesserung der Qualität und Patientenorientierung in der Gesundheitsversorgung. Die Satzung der Stiftung ermöglicht aber auch das Fördern von Kunst und Kultur – was ganz im Sinne des Stifters (1937 – 2017) ist. Von Haus aus Kaufmann und Ingenieur und in eigener Firma als Berater von Krankenhäusern tätig, war er auch ein großer Mäzen der Kunst und hat u.a. als „Platinstifter“ (das sind diejenigen, die richtig viel Geld locker gemacht haben und eigens im Foyer auf einer Namenstafel erscheinen) den Bau der Elbphilharmonie mit ermöglicht. Dem Tanz war er auch familiär verbunden: seine Nichte Carolina Lohfert Praetorius tanzte vor Jahren im Hamburg Ballett, deren Tochter Ida Praetorius ist dort seit Dezember 2021 als Erste Solistin engagiert, blieb aber gleichermaßen auch dem Royal Danish Ballet verbunden, wo ihr Bruder Tobias als Solist und Choreograf tätig ist.

Die Verbindung zur Elbphilharmonie ermöglichte nun, dass die Lohfert-Stiftung den Tanz dort am 6. April auf die Bühne des Großen Saals brachte – was sogar Prinzessin Benedikte zu Dänemark, der Schwester der dänischen Königin, die dem Ballett erklärtermaßen sehr zugetan und eine enge Freundin John Neumeiers ist, eine Reise nach Hamburg wert war.

„Neue Bahnen“ war die Aufführung überschrieben, für die sich das Trio Vitruvi (Niklas Walentin, Violine; Jacob la Cour, Cello; Alexander McKenzie, Klavier) mit 15 vorwiegend aus dem Royal Danish Ballet stammenden, durchweg großartigen Tänzer*innen von Kammerballetten zusammenfand.

Und tatsächlich wurden hier durchaus neue Wege beschritten: So intensiv wurde die Bühne der Elbphilharmonie noch nie betanzt – und war dafür bisher auch nicht gedacht, weshalb der Tanzboden dafür freundlicherweise vom Bundesjugendballett zur Verfügung gestellt wurde. Allerdings gab es durchaus schon erste Schritte bei den Versuchen, das Konzerthaus für das Ballett zu öffnen. Bereits Anfang Januar 2017, noch vor der offiziellen Eröffnung des Hauses, hatten Sasha Waltz & Guests mit dem Chor Vocalconsort Berlin und neun Musiker*innen die Foyers mit „Figure Humaine“ eingeweiht, der Große Saal war damals noch tabu (siehe tanznetz vom 2.1.2017). Und Anfang September 2017 hatte Anna Teresa de Keersmaeker „Mitten im Leben wir sind“ zu Bachs sechs Cello-Suiten auf der Bühne der Elbphilharmonie gezeigt (siehe tanznetz vom 4.9.2017). Eine tänzerische Premiere war dieser Ballettabend deshalb nicht – in dieser Intensität aber schon.

Neue Wege als Ensemble in der Tanzwelt geht auch die in Kopenhagen ansässige Kompanie Kammerballetten: gegründet 2018 durch das Trio Vitruvi als Ensemble, das für jedes Programm neu zusammengestellt wird, finanziert durch Stiftungen und ausschließlich live von Kammermusik begleitet. „Wenn live zu Musik getanzt wird, entsteht etwas sehr viel Intensiveres als zu Musik vom Band – wir haben uns das zur Philosophie gemacht“, sagt Alexander McKenzie, Pianist, Komponist und künstlerischer Leiter von „Kammerballetten“, im Vorgespräch zur Aufführung.

Jetzt also ein siebenteiliger Ballettabend auf der Bühne des Großen Saals. Den Auftakt machte „Oenothera“, eine Choreografie von Tobias Praetorius für drei Tänzerinnen (Stephanie Chen Gundorph, Astrid Grarup Elbo, Ida Praetorius) zu Schuberts Notturno D 897 – ein zwar sehr fein getanzter, choreografisch aber doch etwas arg trivialer Reigen mit vielen Bewegungsredundanzen. Ein Genuss hingegen das nachfolgende Klavierquartett Nr. 2 c-Moll von Johannes Brahms, bei dem Hartmut Rohde an der Viola als Gast mitspielte. Es war das einzige Stück ohne Tanz, und ein weiteres Mal konnte sich hier im Spiel der großartigen Musiker die magische Akustik des Großen Saals entfalten – jedes noch so zarte Pianissimo füllte den ganzen Raum. Und es scheint, als hätte der Saal in den nunmehr sechs Jahren seines Bestehens seine anfangs oft als gnadenlos hart empfundene Transparenz in eine sich warm ausbreitende Fülle verwandelt.

Als Drittes dann „Unravel“ von Kristian Lever (den Hamburger*innen vielleicht noch aus seiner Zeit zwischen 2015 und 2017 beim Bundesjugendballett bekannt), ein Pas de Deux zu „Pavane pour une infante défunte“ von Maurice Ravel. Es ist ein spannender, stellenweise ziemlich aggressiver Dialog zwischen Mann und Frau, die sich nicht entscheiden können, ob sie nun zusammenbleiben oder nicht, exzellent getanzt von Stephanie Chen Gundorph und Tobias Praetorius.

Vor der Pause dann noch „Absolute Pitch Black“ von Sebastian Kloborg zum Nocturne in cis-Moll von Frédéric Chopin, arrangiert für Violine und Klavier, das Kloborg noch einmal extra für die Elbphilharmonie und den Weinbergsaal umstrukturiert hatte. Denn was für die Guckkastenbühne funktioniert, geht mit der von allen Seiten rundum einsehbaren Bühne meistens schief. Und so dupliziert Kloborg einfach einen Teil des Stücks und zeigt es erst einmal frontal und dann in die Gegenrichtung – dafür wird sogar eigens ein zweiter Flügel auf der Bühne platziert. Es lohnt sich, denn rund um die auf der Bühne verteilten, rollbaren Kleiderständer – vollgehängt mit schwarzer Garderobe aller Art – spielt sich einiges ab. Zwei Tänzerinnen (Emma McKenzie, Carling Talcott-Steenstra) und drei Tänzer (Mathieu Rouaux – noch ein früherer Hamburger Tänzer, Alexander Staeger, Ryan Tomash), alle in schwarzen Anzügen und weißen Hemden mit schwarzer Fliege, entfesseln da ein temporeiches, wildes Versteckspiel, ein Hin und Her, ein Vor und Zurück, bei dem man mit dem Zuschauen kaum hinterherkommt. Der Geiger ist so hingegeben an sein Spiel, dass er sogar ohne das Instrument auf den blonden Haaren Emma McKenzies, auf dem Arm eines Tänzers oder der eigenen aufgebundenen Krawatte „spielt“. Das ist zwar recht amüsant, aber auch ein bisschen Slapstick-Klamauk – brillant getanzt.

Nach der Pause dann der erste Höhepunkt: Mayo Arii, bis 2019 als Solistin beim Hamburg Ballett engagiert, danach beim Houston Ballet und seit 2020 beim Royal Danish Ballet), zelebriert zusammen mit Alban Lendorf den Pas de Deux „Neue Bahnen“ von Tobias Praetorius zum Adagio aus dem Klaviertrio h-Dur op. 8 von Johannes Brahms. So richtig neu sind die choreografischen Bahnen nicht, die die beiden über die Bühne ziehen, aber schön anzusehen durchaus. Denn was Mayo Arii dabei zeigt, ist hohe Tanzkunst: diese Eleganz, diese edle Linie, diese Grazie, diese Delikatesse in jeder Bewegung! Ein Genuss in jeder Hinsicht!

Was für ein Kontrast dazu dann „Unio“ von Ilya Jivoy zu „Plainscapes“ des lettischen zeitgenössischen Komponisten Peteris Vasks – ein abstrakt-modernes Stück für zwei Tänzerinnen (Emma McKenzie und Stephanie Chen Gundorph) und drei Tänzer (Marcin Kupinski, Alexander Staeger und Ryan Tomash). Es geht um zwischenmenschlichen Zusammenhalt und gleichermaßen um Abstoßung, Ausgrenzung und Vernichtung, aber auch um Trost und Gemeinsamkeit – das 2022 entstandene Werk ist erkennbar beeinflusst von der Corona-Krise. „Ich möchte zeigen, wie einzigartig jeder Mensch ist, und gleichzeitig, wie zerbrechlich er ist. Darum geht es in diesem Stück. Zugleich möchte ich zeigen, dass wir alle zusammen sind. Auf diese Weise hoffe ich, dass wir einander zuhören und einander helfen. Nur gemeinsam ist es uns möglich, uns zu bewegen, uns weiterzuentwickeln, zu lernen, einander zuzuhören und uns gegenseitig zu unterstützen“, wird der Choreograf im Programmheft zitiert. Es sind Sätze, die man unserer Gesellschaft nicht oft genug ins Stammbuch schreiben kann. Ilya Jivoy findet dafür eine vielfältige Bewegungssprache, die in den oft synchron gehaltenen Ensembles ebenso besticht wie in den Soli.

Und so bildet dieses Werk auch eine gute Überleitung zum eigentlichen Höhepunkt des Abends: „Selvportraet“ von Paul Lightfoot, 2021 kreiert, zu eigens dafür von Alexander McKenzie neu komponierter Musik, die an die Minimal Music von Philip Glass erinnert. Es ist ein furioser Pas de Trois für zwei Männer (brillant: Sebastian Pico Haynes und Toon Lobach) und eine Frau (fast etwas zu zart für diesen Part: Mikaela Kelly), inspiriert durch die drei Schicksalsgöttinnen der antiken griechischen Mythologie: Klotho, die Spinnerin des Lebensfadens; Lachesis, die Zuteilerin, die die Länge des Lebensfadens bemisst, und Atropos, die Unabwendbare, die Zerstörerin, die bestimmt, wie der Lebensfaden durchtrennt wird. Auch dieses Stück ist erkennbar durch die Erlebnisse in den vergangenen drei Jahren geprägt: von der Einsamkeit, dem Verlorensein, der Hilflosigkeit, dem Miteinander-Verstricktsein, aber auch von Zorn und Protest. Was sich da auf der Bühne entfaltet ist – zusammen mit der Musik – ein grandioses Gesamtkunstwerk, eine Hymne an das Leben in all seinen Facetten, und eben auch an den Tod als das Unausweichliche.

Dass der Abend so gut gelang, ist nicht zuletzt das Verdienst der exzellenten Techniker*innen der Elbphilharmonie, die zusammen mit den Beleuchtern (für das ausgebuffte Lichtdesign zeichneten Roger Irman und – nur für sein eigenes Stück – Paul Lightfoot verantwortlich) das Unmögliche möglich machten. Die Zuschauer im ausverkauften Saal waren hellauf begeistert und belohnten Tänzer*innen und Musiker*innen mit Standing Ovations. Zu Recht – denn Kammerballetten und seine Musiker sind eine große Bereicherung in der Welt des Tanzes, die man schnellstmöglich in Hamburg wiedersehen möchte.
 

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