Das tschechische Nationalballett Prag mit einer Neuinszenierung von Neumeiers „Endstation Sehnsucht“

Das tschechische Nationalballett Prag mit einer Neuinszenierung von Neumeiers „Endstation Sehnsucht“

Illusionen wie Tennessee

Das Tschechische Nationalballett Prag gastiert mit John Neumeiers „Endstation Sehnsucht“ bei den Hamburger Ballett-Tagen

Von Prag nach Hamburg. Das tschechische Nationalballett bringt eine Neuinszenierung von Neumeiers „Endstation Sehnsucht“ in die Hansestadt. Können die Gäste überzeugen?

Hamburg, 23/06/2023

Es ist dieses kurze Aufstrahlen ihres Gesichts, mit dem Blanche noch auf dem Eisenbett der Irrenanstalt für sich einnimmt. Ein Hauch von Belle Reve, der guten alten Zeit in der Familienvilla, als man sie noch respektierte und begehrte. Alina Nanu vom Tschechischen Nationalballett fängt auch mimisch die Tragik dieser vom Leben enttäuschten und zerstörten Frau ein, wie sie John Neumeier in seinem Kammerballett „Endstation Sehnsucht“ nach dem großartigen Psychodrama von Tennessee Williams 1983 entworfen hat.

In Neumeiers Kosmos ist sie eine Verwandte der kleinen Meerjungfrau aber auch des verträumten Königs seiner Schwanensee-Illusionen. Alina Nanu hat genau den Charme und die tänzerische Finesse, um das Schicksal dieser Südstaatenschönheit auszudrücken. Immer wieder auf Spitze und in duftigen, sie wie Feenschleier umspielendenen Kleidern zeigt sie die Zerbrechlichkeit einer kultivierten und verwöhnten Seele in einer längst zerbrochenen und brutalen Welt.

Zunächst meint man, dass die Kerle, die sie umlauern, gar nicht bis zu ihr durchdringen können. Dass sie den Verfall einer still vor sich hinsterbenden besseren Gesellschaft kaum bemerkt. Diese Familienmitglieder tragen bereits schwarz und werden nach und nach zu Boden gehen. Blanche aber flattert mit ihrem Hochzeitsschleier durch die klassisch arrangierten Tänze auf der Suche nach ihrem Bräutigam Allan Gray, der in dieser festgefügten Society ganz andere Probleme hat.

Immer wieder kommt er knapp vor einem Beau in Weiß (Danilo Lo Monaco) zu stehen, entweicht mal ihr, mal ihm fahrig und nervös, bis er den Begehrten von hinten umschlingt und ans Herz fasst. Ludovico Tambara spielt das Scheu-erregte der mit seinen eigentlichen Gefühlen und der Konvention kämpfenden Figur sehr einfühlsam aus. Er kann aber auch sehr viel unbeschwerter wirbeln, wenn er später im New-Orleans-Akt als Zeitungsjunge wiederauftaucht und von Blanche wieder für ihren Bräutigam gehalten wird. Zuletzt wird er auch der Arzt sein, der Blanche in die Anstalt führt. Neumeier hat aus Allan, dem Katalysator für Blanches psychischen Schock, eine Figur wie später den Schatten in „Illusionen wie Schwanensee“ gemacht, der Ludwig ebenso verfolgt.

Tatsächlich reißt Allan sie zum ersten Mal aus ihrer Traumwelt, als er seinen Geliebten küsst und dabei von ihr überrascht wird. Sie ist zu sehr Geschöpf ihrer Society, als dass sie damit umgehen könnte. Auch er ist gleichfalls so erdrückt vom gesellschaftlichen Umfeld, dass er sich erschießt. Mit Blanche sehen wir diesen traumatischen Moment, der bei ihr auch Schuldgefühle ausgelöst hat, immer wieder. Er springt auf und tanzt und stirbt erneut, ein Wiedergänger, und der Schuss wird auch noch oft zu hören sein.

Die Lüster, das klassizistische Portal, alles bricht nun zusammen. Blanche lässt unter dem Logo der Flamingo-Bar viele Männer über sich, will Allans Gesicht offenbar durch betont maskuline Kerle auslöschen. Aber keiner von ihnen kann ihr Innerstes treffen. Dazu braucht es die zerstörerische Energie von Stanley, den ungehobelten Mann ihrer Schwester Stella in New Orleans, zu der sie, längst verarmt, ziehen muss. Bezeichnend wie sie ihm zur Begrüßung ihre Hand im Glacéhandschuh entgegenstreckt, er sie mit seinem Boxhandschuh aber gar nicht ergreifen kann. Zwei Welten treffen aufeinander.

Paul Irmatov ist als Stanley nicht der typische Macho. Er kommt eher jungenhaft rüber, wenn er mit Stella (Irina Burduja) auf dem Bett post, die Sexszene ist eher sportlich als kerlig, und wenn er sich mit Quickstep und Tours en l’air über seinen Boxsieg freut, ist das noch lustig-sympathisch. Das sieht bei der ersten Versuchung Blanches schon anders aus, wo er sie um die Hüfte gewickelt durch den Raum trollt, sie aber auch gern seine Muskeln fühlt. Als sie mit ihren Pirouetten bei seinem galanteren Kumpel Mitch (Patrik Holecek) landen kann, regt sich die Rache des Auswandererprolls. Stanley enthüllt Blanches Vergangenheit: Die Kerle aus der Flamingo-Bar werden sichtbar, zerren an Blanches Kleidern und Füßen.

Als sie mit gepacktem Koffer fliehen will, kommt die letzte Drehung der Schraube zu ihrer Zerstörung. Der betrunkene Stanley vergewaltigt sie. Auch hier wirkt Irmatov nicht prollig, aber in seiner raubkatzenartigen Geschmeidigkeit perfide und gefährlich. Er nimmt sie in die Beinschere, wälzt sich über sie, befriedigt sich an ihren Beinen und lässt sich im Handstand auf sie runter. Vor allem geht es um die Angst, die das Opfer spürt: Blanche flüchtet unters Bett und wird da wie gefangen gehalten. Alina Nanu spielt das herzzerreißend, und wenn man genau hinschaut, erreicht Stanley erst jetzt Befriedigung, bringt seinen schlaffen Arm ins Schleudern und schlägt sich nachher primitiv auf die Brust.

Es wird noch trauriger, wenn die Pflegerin Blanche mit strengem Griff abholt, ihre Arme kreuzt wie in einer Zwangsjacke. Der Arzt, der ihr übers Haar streichelt und sie im Spagat mit sich trägt, ist wieder ihr Bräutigam. Und ja, man ertappt sich bei dem Gedanken, dass, hätten sie damals mit seiner Homosexualität anders umgehen können, sie sich vielleicht im Leben eine freundschaftliche Stütze hätten sein können.

Sie sitzt wieder auf dem Anstaltsbett. Das Strahlen ist erloschen.

Ein packendes Stück. Und von den tschechischen Gästen stilvoll, anrührend, markant umgesetzt. Auch von der Compagnie, die besonders im New-Orleans-Akt im Hintergrund viele stumme Figuren des Stadtviertels mimt. Es ist die gleichgültige Gesellschaft drumrum, aber eben auch eine, in der viele ähnliche Dramen ablaufen mögen. Bis heute. Neumeier gelingt es ganz unaufdringlich, den Blick vom Einzelfall zu weiten. Am Ende besonders herzlicher, langer Applaus für die Prager Compagnie. Schön, dass dieses Stück als Gastspiel aus Prag die Ballett-Tage zum 50. Jubiläum des Hamburg-Balletts ergänzte, während die Compagnie im Michel mit der Matthäuspassion ein anderes emblematisches Werk Neumeiers tanzte.

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