„Endstation Sehnsucht“ von John Neumeier, Tanz: Matias Oberlin, Anna Laudere / Hamburg Ballett

„Endstation Sehnsucht“ von John Neumeier, Tanz: Matias Oberlin, Anna Laudere / Hamburg Ballett

Zerstörung einer Seele

Spielzeitauftakt beim Hamburg Ballett mit „Endstation Sehnsucht“

Seit 2009 war dieses wichtige Werk John Neumeiers nicht mehr in Hamburg zu sehen – jetzt wurde es zu Beginn der allerletzten Spielzeit des Ballett-Intendanten in völlig neuer Besetzung wiederaufgenommen.

Hamburg, 19/09/2023

Es kann von Vorteil sein, wenn man Programmhefte viele Jahre lang aufbewahrt. Zum Beispiel das der Wiederaufnahme von „Endstation Sehnsucht“ beim Hamburg Ballett aus dem Jahr 2009. Die darin enthaltenen handschriftlichen Notizen und Fotos aus John Neumeiers New Orleans-Tagebuch von 1983 sind höchst aufschlussreich, was das Entstehen dieses Werkes betrifft, das Neumeier 1983 für das Stuttgarter Ballett schuf und das zweifellos zu seinen wichtigsten und berührendsten Kreationen gehört. Nicht nur das Bühnenbild, die Kostüme und das Lichtkonzept hat Neumeier auf der Basis seines Besuchs in der Hauptstadt der amerikanischen Südstaaten entwickelt, sondern der literarischen Vorlage von Tennessee Williams auch einen eigenen Prolog vorangestellt, der das Ballett abrundet.

Dieser Prolog beginnt mit der Endstation, an der Blanche landet: dem einsamen Bett im Irrenhaus, wo Blanche heimgesucht wird von den Stimmen der Vergangenheit, von Männern, die sie bedrängen, von Wahnvorstellungen und Erinnerungen. Von dort aus blättert Neumeier auf, wie es dazu gekommen ist. Im Mittelpunkt der Rückblende steht Belle Rêve, das Elternhaus von Blanche, eine typische Südstaatenvilla mit weißen Säulen und Lamellentüren. Wir spüren die erdrückende Atmosphäre mit den steifen, verknöcherten Großeltern, den aristokratischen Zwängen. Es ist der Tag von Blanches Hochzeit mit Allan Gray, der jedoch nicht sie, sondern einen Mann liebt. Blanche erwischt die beiden in flagranti – und Allan, der den Zwiespalt nicht aushält und keinen Ausweg weiß, erschießt sich. In ihrer Verzweiflung und Angst vor dem Witwendasein und in ihrer Unfähigkeit, den Zerfall von Belle Rêve aufzuhalten und sich alleine als Lehrerin in einer männerdominierten Welt zu behaupten, flieht Blanche zu ihrer Schwester Stella, die im heruntergekommenen französischen Viertel in New Orleans lebt. Und damit beginnt Teil 2 des Stücks. Stella ist verheiratet mit Stanley Kowalski, einem rüpelhaften Arbeiter polnischer Herkunft, der das Boxen und Prahlen liebt und vor allem eines im Sinn hat: Sex. Stella gefällt das – es ist der absolute Kontrapunkt zu ihrem vornehmen Elternhaus. Blanche, ohnehin verstört durch die missglückte Hochzeit, ist davon eher abgestoßen. Nur zögerlich öffnet sie sich deshalb Mitch, einem Freund von Stanley, der ihr den Hof macht. Aber Stanley offenbart Mitch die seinerzeit als skandalös geltende Vergangenheit von Blanche, und – gereizt und provoziert durch ihre auf Vornehmheit bedachte Art und Überspanntheit – vergewaltigt er sie auf brutale Weise. Blanche, jetzt völlig verstört und orientierungslos, wird ein Fall für die Psychiatrie, und Stella, die nichts weiß von dem Verbrechen ihres Mannes bzw. es ableugnet, lässt sie einweisen. Endstation.

Neumeier folgt hier nicht strikt dem Skript von Tennessee Williams, sondern entwickelt seine eigene Interpretation, um den Kern herauszuarbeiten: die Zerstörung einer empfindsamen Seele. Vierzig Jahre nach der Uraufführung in Stuttgart hat das Stück nichts von seiner Dramatik und Wucht verloren, was auch zurückgeht auf die Musik, die Neumeier dafür gefunden hat. Im ersten Teil sind es die „Visions fugitives“ von Sergej Prokofjew, im zweiten Teil die Erste Sinfonie von Alfred Schnittke, die kongenial zu diesem Ballett passt und ebenso verstörend klingt wie das Stück selbst verstörend wirkt – jeder Ansatz von Harmonie wird sofort gebrochen und konterkariert. Die Musik kommt an diesem Abend durchweg vom Band – Alfred Schnittke hatte verfügt, dass diese Erste Sinfonie nur in der Originalfassung der Uraufführung vom 9. Februar 1974 in Gorki unter der Leitung von Gennadi Roschdestwenski verwendet werden darf.

Von den Hauptdarsteller*innen des Hamburg Balletts fordert Neumeiers Inszenierung ein Höchstmaß an Bereitschaft, sich aus jeglicher Komfortzone zu lösen. Allen voran natürlich Blanche – und so wird diese Aufführung zu dem Abend von Anna Laudere, die in dieser Rolle nachgerade über sich hinauswächst. Noch nie sah man diese inzwischen 40-jährige Erste Solistin so echt, so unverstellt und so ergreifend wie hier. Nicht minder eindrucksvoll Edvin Revazov als Mitch. Wie er diesen Mann zeichnet, der hin- und hergerissen ist zwischen der Zuneigung zu Blanche und der Faszination, die Stanleys strotzendes Mackertum in ihm wachruft, ist großartig. Jacopo Bellussi als Allan findet das richtige Maß an Empfindsamkeit, Zuneigung zu seinem Liebhaber und dem Bedauern dafür, was er Blanche mit seinem Schwulsein und seinem Selbstmord antun musste. Matias Oberlin als Stanley ist ein echter Fiesling, auch wenn er von der Statur her nicht so ganz dem entspricht, was man sich unter so einem Kerl vorstellt – was aber vielleicht auch daran liegt, dass es in der Geschichte dieses Balletts eine Reihe von grandiosen Stanleys gab: allen voran Richard Cragun in Stuttgart, in Hamburg Ivan Liška, Gamal Gouda und Carsten Jung. Charlotte Larzelere als Stella nimmt man das Burschikose und vor allem Lustvolle dieser Frau nicht wirklich ab, auch wenn sie dem Part technisch gewachsen ist. Bei einem Stück, das derart von der Interpretation der Rollen zehrt, ist das schon ein Manko.

Gespannt sein darf man deshalb auf die zweite Besetzung mit Karen Azatyan als Stanley, Ida Praetorius als Blanche, Alessandro Frola als Allan, Ana Torrequebrada als Stella und Christopher Evans als Mitch.

Das Publikum im nicht ganz ausverkauften Haus (was in der Hansestadt bei einer Premiere selten vorkommt) war zu Recht begeistert und feierte den Ballettintendanten wie auch die Solist*innen und das Ensemble mit Standing Ovations.

 

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