„Dona Nobis Pacem“ von John Neumeier. Tanz: Xue Lin, Christopher Evans, Ensemble

„Dona Nobis Pacem“ von John Neumeier. Tanz: Xue Lin, Christopher Evans, Ensemble

Ein würdiges Vermächtnis

John Neumeiers „Dona Nobis Pacem“ zu Bachs h-Moll-Messe in Hamburg

Mit einem weiteren sakralen Ballett beschließt John Neumeier vorläufig sein kreatives Schaffen in Hamburg. Ob es wirklich das letzte abendfüllende Werk von ihm in der Hansestadt ist? Wer weiß...

Hamburg, 06/12/2022

Es sei „extrem schwer“ gewesen, für den Abschluss seiner 50-jährigen Arbeit als Ballettdirektor bzw. -Intendant und Chefchoreograf des Hamburg Ballett ein Stück für eine neue und vorläufig letzte abendfüllende Kreation zu finden, gestand Neumeier im Rahmen einer Ballett-Werkstatt am 20. November 2022. Schon als er 1980 mit dem Kirchenmusiker Günter Jena an der Kreation der „Matthäus-Passion“ arbeitete, hatte Jena ihm die h-Moll-Messe von Bach ans Herz gelegt – weshalb es eine schöne Geste von Neumeier ist, dieses Werk dem inzwischen 89-jährigen zu widmen. Jetzt erst habe er sich der Aufgabe gewachsen gefühlt, diese große und letzte Messe von Bach, „das größte musikalische Kunstwerk aller Zeiten und Völker“, wie der Komponist Hans Georg Nägeli 1818 schrieb, in Tanz umzusetzen. Er wolle damit niemanden missionieren oder bekehren, sagt Neumeier, sondern „die Stärke und Leistungsfähigkeit des Hamburg Ballett zum Ausdruck bringen“. Es sollte sein Vermächtnis sein – für die Kompanie, für das, was war, was ist und noch sein wird.

Um es vorweg zu nehmen: Das ist ihm gelungen. „Dona Nobis Pacem“, dessen Titel nach dem Schlusschor der Messe schon lange vor dem 24. Februar 2022 feststand, ihm aber natürlich eine nur allzu beklemmende, zeitlose Aktualität verleiht, ist das Kondensat von Neumeiers Kreativität und Erfahrung. Es ist gerade in seiner Schlichtheit, seiner Bescheidenheit und Reduktion von einer emotionalen Wucht, die sich erst im Nachklang richtig entfaltet. Und es ist wohl auch gerade diese Fähigkeit zur Rückführung auf das Innerste, das Wesentliche, das das Hamburg Ballett verkörpert wie keine zweite Kompanie auf der Welt, und das sie so einzigartig macht. Weshalb „Dona Nobis Pacem“ nach der Dritten Sinfonie von Gustav Mahler das Zeug hat, zum zweiten Signaturstück der Ära Neumeier zu werden. Mahler stand am Beginn – die h-Moll-Messe bildet den Schluss. Beide Werke sind Neumeier pur. Mit ihnen hat er den Hamburgern sein ganzes Können, sein Herz und seine Seele auf die Bühne gelegt.

So wie Bach in der h-Moll-Messe immer wieder sich selbst zitiert, so finden sich auch bei Neumeier immer wieder Parallelen zu seinen früheren Stücken: im Bühnenbild z. B. zu „Duse“ (der Schützengraben), zu „Verklungene Feste“ (die Backsteinwände), zu „Das Lied von der Erde“ (die goldene Wand); choreografisch sind Passagen aus „Weihnachtsoratorium I-VI“ erkennbar oder auch aus „Préludes CV“ und „Magnificat“ (der große Pas de Deux zum Agnus Dei, dem vorletzten Chor der Messe, seinerzeit für Sylvie Guillem und Manuel Legris von der Pariser Oper kreiert und hier von Xue Lin und Christopher Evans kongenial zelebriert). Allerdings fühlt sich das nie als Eigen-Plagiat an, als Doppelung oder gar Wiederholung. Vielmehr gewinnen die Schrittpassagen oder auch die ohnehin sehr sparsam eingesetzten Kulissen ein ganz neues Eigenleben, sie wirken komplett neu und stimmig, und doch irgendwie vertraut.

Natürlich zieht sich das Thema von Krieg und Frieden wie ein roter Faden durch den Abend. Es beginnt, indem ein Soldat in Uniform (erschreckend glaubhaft: Louis Musin) an der Rampe über die Bühne hetzt und zusammenbricht, erschöpft, ausgelaugt, verwundet an Körper und Seele. Ein Fahrrad liegt verbogen vor einer Wand in der Bühnenmitte auf dem Boden – und unwillkürlich werden dabei die schrecklichen Bilder aus Butscha wach. Die graue Mauer hat eine große Öffnung, durch die ein Schützengraben mit Stacheldrahtverbauungen sichtbar wird. Sie ist gleichzeitig auch Projektionsfläche für verschiedene Fotos, die ein Kriegsfotograf (Lennard Giesenberg, der die von Neumeier vorgesehenen Zwischentexte wunderbar klar und prononciert spricht) mit deutlich vernehmbaren Klicken der Kamera aufnimmt. Ein Mann mit einem Koffer betritt die Bühne. Der Koffer geht auf, und es fallen unzählige Blätter und Fotos heraus – Erinnerungen. Der Mann, „ER“ genannt, wird zum Zeugen für die Schrecken und Greuel des Krieges, ist gleichzeitig aber auch ein Suchender nach Hoffnung und Zuversicht und Erlösung. Nicht ohne Bezug kommt hier mehrfach das weiße Frackhemd zum Einsatz, das wir schon aus der „Matthäus-Passion“ und dem „Weihnachtsoratorium“ kennen. Aleix Martínez gibt diesen ER mit großer Bescheidenheit und Demut, aber auch mit einer zwingenden Präsenz und Klarheit und in den Passagen, wo er tanzen darf, auch mit der ihm eigenen Bravour.

Und so wird jedes Lied, jede Arie, jeder Chor zum Gebet. Zum Gebet für ein Ende des Krieges. Für das Verstehen. Für Mitgefühl. Für das Verzeihen. Für die Liebe. Es sind, wie Neumeier im Untertitel vermerkt, „choreografische Episoden“, denen die h-Moll-Messe als Inspiration diente. Und doch sind es keine zusammenhanglosen Aperçus, vielmehr eint sie ein großer Bogen, der einem vorkommt wie ein einziges Flehen um Frieden, auch den inneren, den Seelenfrieden.

Zwei Soli gibt es, die ganz besonders unter die Haut gehen. Dem ersten geht das von Lennard Giesenberg gesprochenes Gedicht „Der Schatten“ von Günter Kunert voraus, das dieser über eine von der Hiroshima-Atombombe in Stein gebrannte Silhouette eines Kindes geschrieben hat. Alessandro Frola setzt dieses Gedicht zum „Quoniam tu solus sanctus“ mit einer phänomenalen Präsenz in Bewegung um, es ist ein einziges Fanal gegen die Unmenschlichkeit. Die Videoeinspielung dazu wirkt allerdings nur störend – es hätte gereicht, man hätte die langsame Explosion einer Atombombe projiziert, der Bezug war ja ohnehin klar. Dass dazu noch Filmaufnahmen aus den Proben schemenhaft mit auf die Folie geworfen werden, stört nicht nur den Gesamteindruck, es lenkt auch ab und mindert damit den Tanz. Warum Neumeier so etwas zulässt, verwundert dann doch.

Das zweite Highlight ist das Solo eines Geistlichen, das Sasha Trusch zu „Et in Spiritum sanctum“ tanzt. Auch hier wieder eine Reduktion auf das Wesentliche – voller Inbrunst, Klarheit und Hingabe. Große Tanzkunst!

Nicht minder eindrücklich aber auch die jungen Frauen (Madoka Sugai, Greta Jörgens, Chralotte Larzelere, Ana Torrequebrada) oder die fünf Witwen (Anna Laudere, Yaiza Coll, Patrizia Friza, Ida Praetorius, Ida Stempelmann).

Am berührendsten jedoch ist der Schluss, wenn sich das gesamte Ensemble in Weiß auf der Bühne einfindet – in einem Miteinander und Füreinander und Umeinander, die Hand zur bittenden und einladenden Geste ausgestreckt, während „ER“ langsam durch die Menge hindurchschreitet, einem unbekannten Ziel zu. Das ist so stimmig, so einfach, so schlüssig – und noch dazu ein Bild, das nach dem Schlussakkord entsteht und damit das Publikum zwingt, dem Nachklang zu lauschen, die Stille auszuhalten, bis schließlich das Licht verlöscht.

Getragen wird dieser Abend aber nicht nur vom Tanz, sondern ganz besonders auch von dem grandios aufspielenden Ensemble Resonanz und dem Vocalensemble Rastatt sowie den Solist*innen Marie Sophie Pollak (Sopran I), Katja Piewek (Sopran II, für die erkrankte Sophie Harmsen), Benno Schachtner (Altus), Julian Prégardien (Tenor) und Konstantin Ingenpass (Bass) unter der musikalischen Leitung von Holger Speck. Das Premierenpublikum feierte alle Beteiligten zu Recht mit ganz großem Jubel und Standing Ovations.
 

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