Die Kraft der Erinnerung

„REMEMBER ME“ beim Stuttgarter Ballett

Ein Abend in Erinnerung an John Cranko, der vor 50 Jahren plötzlich im Alter von nur 45 verstarb, aber in seiner Zeit als Leiter seit 1961 das Stuttgarter Ballett zu einer der weltweit führenden Ballettkompanien erhoben hatte.

Stuttgart, 23/07/2023

Mit „Initialen R.M.B.E.“ hatte John Cranko im Januar 1979 eines seiner Meisterwerke geschaffen. Diese Initialen stehen für die Namen der ihn damals ganz besonders inspirierenden Tänzerinnen und Tänzer Richard Cragun, Marcia Haydée, Birgit Keil und Egon Madsen. Für Cranko war es, „Ein Ballett für die Freunde Richard, Birgit, Marcia und Egon zu Musik von Johannes Brahms, dessen leidenschaftlicher Sinn für Freundschaft und Liebe durch sein Werk wie auch durch seine Briefe und durch Zeugnisse anderer Art belegt ist.“

Nun sind es Adhonay Soares, im „I. Satz R.“, mit Daiana Ruiz und Mackenzie Brown, Anna Osadcenko, im „II. Satz B.“ mit Veronika Verterich, Rocio Aleman, Jason Reilly, Martí Fernández Paixà und David Moore, Elisa Badenes, im „III. Satz M“, mit Friedemann Vogel und Matteo Miccini im „IV. Satz E.“ mit Irene Yang.

Keine Kopien. Aber in spürbarer Inspiration der Erinnerung die begeisternde Vergegenwärtigung dieser nunmehr, ganz positiv gesehen, zeitlosen Hommage an die Kraft der Kunst gegen die  Vergänglichkeit, wie sie eben vor allem im Tanz so berührend zu erleben ist.

Cranko verwandelt den Klang in Bewegung, er spürt mit musikalischer Genialität den Stimmen des Konzertes in den vier Sätzen des 2. Klavierkonzertes von Brahms nach. So wie der Solopart des Pianisten - hier Alexander Reitenbach - sich aus der mitunter höchst vollen Klangromantik des Orchesters erhebt und in die Freiheit musikalischer Inspirationen führt, so in der choreografischen Übertragung für die Tänzerinnen und Tänzer. Ein höheres Maß an musikalischer Zuneigung hätte man sich nur vom Dirigenten Mikhail Agrest am Pult des Staatsorchesters Stuttgart erwartet.

Ja, es ist zu spüren, dieser Tanz gegen die Vergänglichkeit, in den solistischen Passagen, in einer Art Ausflucht aus Raum und Gemeinschaft, um aber gleich darauf zurückzukehren in den Schutz der Zweisamkeit, der kleinen oder der ganz großen Gruppe. Diese grandiosen Tänzerinnen und Tänzer des Stuttgarter Balletts, führen auch das Publikum in die wunderbaren Momente emotionaler Freiheit.

Es sind Momente scheinbarer Überwindung der Schwerkraft in den Variationen solistischer Drehungen und Sprungvarianten. Es ist die Solidarität des Aufhelfens in den Varianten der Hebungen, in dieser Kreation, die kein Handlungsballett ist und doch so viel erzählt über menschliches Miteinander. Über das Glück des Augenblickes erhebender Zuneigung, gleich darauf über den Schmerz der Trennung, dem Tanz in die unausweichliche Einsamkeit. Da gibt es Bilder von zutiefst berührender Emotion, wenn sich die Tänzerinnen und Tänzer einander zuwenden, sich bei den Händen halten und doch damit umgehen müssen, daß dieses Glück der schützenden Nähe so momentan wie vergänglich ist. Natürlich fordert John Crankos Choreografie höchstes technisches Können, aber dies gleitet nie ab in pure Demonstration des Könnens - auch und vor allem aktuell bei diesen Tänzerinnen und Tänzern Kraft ihrer höchst individuellen Persönlichkeiten.

Darauf folgt, ebenfalls aus dem Stuttgarter Repertoire, aber leider sehr selten zu erleben, Kenneth MacMillans Choreografie „Requiem“ zur Musik des Requiems op. 48 von Gabriel Fauré. MacMillans Choreografie wurde im November 1976 beim Stuttgarter Ballett uraufgeführt. „Dieses getanzte Requiem ist der Erinnerung meines Freundes und Kollegen John Cranko gewidmet, dem Gründer und ehemaligen Direktor des Stuttgarter Ballets.“ - So der Choreograf. Er konnte nicht wissen welch genialer Zusammenklang sich aus der Gemeinschaft dieser beiden Werke ergibt.

Wie hier nun Erinnerung und Gegenwart, Hoffnungen für die Zukunft ein eine Abfolge genialer Zusammenklänge führen, das konnte MacMillan damals nicht ahnen. Zunächst natürlich diese zutiefst berührende Musik von Fauré, in den fünf Sätzen dieser Totenmesse, die bei aller lyrischen Melancholie doch so reich ist an Klängen von starker Hoffnung. Und wenn im letzten Satz das Paradies besungen wird, dann sind die Klangvisionen irdischer Vergegenwärtigung nicht zu überhören. Es ist die klingende Kraft der Versöhnung. Dies auch jetzt in der Stuttgarter Aufführung mit so wundervollen Solopartien wie die der Sopranistin Annija Adamsone und des Baritons Junoh Lee, im Zusammenklang mit dem bestens inspirierten Kammerchor figure humaine in der Einstudierung von Denis Rouger.

Auch wenn zunächst in MacMillans Choreografie gewisse Zitate aus Crankos „Initialen“ eher erfühlbar als in ganz direkter Weise sichtbar werden, so ist die Kraft der damals vergegenwärtigenden Erinnerung spürbar und verweist somit nicht zuletzt auf die Kraft der Erinnerung für zukünftige Entwicklungen des Balletts.

Diese Choreografie hat immer wieder verunsichernde wie dann doch konstruktive Momente des Innehaltens. Der Tanz steht still. Momente der Besinnung und dann im unerwarteten Zusammenfinden der Paare, der Gruppen, der Solistinnen und Solisten, die sich ganz neu in die Freiheit der Individualität ihres Tanzes bewegen. Von besonderer Eindringlichkeit hier die Figuren der Hebungen, technisch höchst anspruchsvoll, aber wieder fernab aller Demonstration, eher immer in tänzerisch lyrisch geformten Momenten des gegenseitigen Aufhelfens. So ist eine Art Christusfigur, getanzt von Jason Reilly, eher eine optische Variante der Grundthematik dieser lyrischen Totenmesse, deren Anlass des Sterbens aber letztlich in die Kraft der Hoffnung des Lebens führt.

Weniger direkt, eher in hohem Maße im tänzerischen Dialog mit der meditativen Kraft der Komposition, zunächst im Eingangssatz „Kyrie“, Elisa Badenes mit dem Ensemble. Das findet für Elisa Badenes und Marti Fernández Paixá im Duo des Satzes „Sanctus“ seinen spirituell geprägten Gegensatz des gemeinsamen Tanzes mit nahezu spielerisch anmutenden Hebefiguren in Momenten glücklichen Übermutes.

Elisa Badenes ist als einzige im fast kindlich anmutenden weißen Kleid gewissermaßen eine regelrecht spielerisch wirkende Vergegenwärtigung unbesiegbarer Hoffnung, vor allem  auch angesichts des Todes geliebter Menschen: So in ihrem Solo zum vierten Satz des Requiems „Pie Jesu“. Im „Agnus Dei“ ist ein großartiger Ensemblesatz diesem „Lamm Gottes“ auf seinem unaufhaltsamen Weg gewidmet.

Dann eine Steigerung im „Libera me“mit dem Sologesang des Baritons im emotionalen, chorischen Dialog, wenn sich dazu Friedemann Vogel, Marti Fernández Paixá, Clemens Fröhlich und Satchel Tanner mit dem Ensemble zum Aufleuchten des ewigen Lichtes in entsprechende, lichtvolle Varianten der Bewegungen führen lassen.

„In Paradisum“ - so der finale Satz des Requiems, das gesamte Ensemble, ein eher meditatives Ausklingen, keine jubelnde Überwindung des Todes, eher die zurückhaltende Annahme des Unausweichlichen, aber in nachvollziehbarer Hoffnung auf die so lebendige wie zukunftsweisende Kraft der Erinnerung: „REMEMBER ME“.

 

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