koeglerjournal aufbereitet

Mit spitzer Feder auf Pilgerfahrt für den Tanz

Horst Koegler, oft oe genannt, war als Tanz-Blogger ab 2001 nicht nur ein Pionier sondern hat in den zwölf Jahren seines Online-Wirkens die mitteleuropäische Tanzszene journalistisch beispielhaft abgebildet.

Stuttgart, 22/08/2023
Horst Koegler © Gert Weigelt | www.gert-weigelt.de

Horst Koegler © Gert Weigelt

Wann wird man die historische Dimension des ersten deutschsprachigen Internet-Blogs über Bühnentanz erkennen bzw. zu würdigen wissen? Horst Koegler (geboren 1927 in Neuruppin) war als Tanzblogger nicht nur ein Pionier – und das ab 2001 in bereits fortgeschrittenem Alter –, sondern hat in den zwölf Jahren seines Online-Wirkens die mitteleuropäische Tanzszene journalistisch beispielhaft abgebildet. Wie oft bei enorm kenntnisreichen Persönlichkeiten tat er das mit der ihm eigenen Subjektivität, manchmal auch Häme – und bisweilen mochte schon mal der Eindruck entstehen, Koegler höchstselbst habe gewusst, „was die Welt im Innersten zusammenhält“ bzw. worauf zumindest die Tanzästhetik seiner Zeit hinauszulaufen habe.

Als Paradebeispiel für eine teleologische Sichtweise mag eine solche Grundhaltung heute angesehen werden, doch muss man Koegler Eines zugestehen: Seine kritischen Ein- und Auslassungen lassen keinesfalls Langeweile aufkommen. Auch war er niemals um Verbesserungsvorschläge gegenüber Choreografen, Bühnen- und Kostümbildnern oder Akteuren auf der Bühne verlegen. Gewiss sind die meisten davon alles andere als bierernst gemeint gewesen – wie seine häufigen Ideen, was geeignetere Titel für neue Tanzwerke anging.

85 ist Horst Koegler geworden. Im Grunde – so scheint es im Licht der Nachwelt – hat er die meiste Zeit seines Lebens über Ballett und Tanz berichtet und geschrieben. Davon konnte er bis zuletzt nicht lassen. 2006 verfasste er – 79-jährig – im Rahmen des koeglerjournals einen überaus lesenswerten Text über seine damals bereits fünf Jahre währende Online-Leidenschaft. Herrlich, wie offen er sich hier über Organisation, Finanzierung und Gründe des Tanzblogger-Daseins äußert. Denn er hat nie erwartet, auch nur einen Cent Honorar zu bekommen und der Redaktion irgendwelche Reisekosten in Rechnung stellen zu können.

Unfassbar viele Premieren und noch öfter Folgevorstellungen hatten sich vor Koeglers Augen abgespielt. War sein Interesse einmal geweckt, wiederholte er seine Besuche gerne, um Produktionen in unterschiedlichen Besetzungen zu erleben. Eine fehlende journalistische Begleitung anderer Medien – z. B. bei einer Ballettpremiere in einem Nachbarland – nahm er dagegen wiederholt zum Anlass, um den Mitbewerber*innen generelles Desinteresse bzw. Ignoranz vorzuwerfen nach dem Motto, was anderswo wohl für ein Presserummel darum betrieben worden wäre. Ein großer Teil von Koeglers Berichten hält künstlerische Ereignisse fest, die sonst in keinem anderen Medium Erwähnung gefunden haben – wie zum Beispiel Gastspiele des Hamburg Ballett in St. Petersburg.

Aus seiner nimmermüden Liebe zur Oper und seiner Verachtung für Richard Wagner machte er nie einen Hehl. Das mag eigenwillig verwegen in einem Online-Portal anmuten, das sich in erster Linie mit Tanz beschäftigt. Koegler wusste aber stets, auch hier Bezüge herzustellen. Und so findet man in seinem koeglerjournal ungemein viele Infos darüber, wer/wann/wie in einer Regiearbeit bestimmte – eigentlich dem Ballett und der Choreografie zugedachte – Passagen gefüllt oder eben radikal ausgespart hat. Mit rasanter Feder verfolgte er Künstlerkarrieren. Manchen Persönlichkeiten blieb er über Jahre hinweg treu auf der Spur, selbst wenn sie keinem Ensemble mehr angehörten – so beispielsweise Margaret Illmann, eine Ballerina von solchem Format, dass er immer wieder Partei für sie zu ergreifen sich anschickte.

Ab 1959 war er – viele Jahre lang – der Stuttgarter Zeitung als Autor und ab 1977 sogar als Redakteur verbunden. Dass er schnell zu einem von Deutschlands bekanntesten und zeitweise sicherlich einflussreichsten Ballettkritikern (Kritikerinnen fürs Ballett gab es damals bezeichnenderweise noch nicht) avancierte, mag unter anderem seinen Anfängen geschuldet sein – einer Zeit, in der fachkundige Rezensent*innen für die Sparte Tanz nicht eben Schlange standen. Koegler ging einen internationalen Weg, schaute sich früh, noch als Student nach dem Krieg, in der britischen und amerikanischen Szene um. Als Relikt dieser frühen, ihn auch stark künstlerisch prägenden Jahre könnte man seine Eigenheit ansehen, zum Teil den herrlichsten Sprachmix in seinen wie dahinerzählten Berichten unterzubringen.

Gern gerierte er sich als Kosmopolit. Und tatsächlich bleibt es im Rückblick sehr spannend, seinen Erzählungen über alte Bekanntschaften oder Besuche bei Künstlern wie Merce Cunningham zu folgen. Sich durch das koeglerjournal zu lesen, gleicht einem emotionalen Wechselbad. Einmal wettert Koegler umher, dann wieder argumentiert und führt er ins Feld, wie viel Spaß Ballett einem doch bereiten kann. Mal muss man über Koeglers Eitelkeit schmunzeln und einige Zeilen später staunt man nicht schlecht über seine (Selbst-)Ironie.

Von den Möglichkeiten des World Wide Web ließ er sich sofort anstecken: Als einer der ersten überhaupt begann Horst Koegler zu bloggen. Sein Forum, das ihm die freie Themenwahl, das Reisen und den Service eines, wie er gern oft selber dankend betonte, „vorzüglichen Sekretariats“ zum Online-Stellen seiner bisweilen von unterwegs abenteuerlich aufgesetzten Beiträge erlaubte, hatte er im tanznetz-Portal gefunden. Hier kommentierte er mit Vorliebe tagesaktuell erschienene Kritiken, gab Tipps zu Büchern und DVDs etc. oder kommentiert, wer in Nachschlagewerken zum Tanz vorkommt bzw. es nicht hineingeschafft hat.

12 Jahre lang – von 2001 bis zu seinem Tod 2012 – blieb er dieser Community treu und führte sein ganz persönliches, digitales Tagebuch. Liest man sich nun, ein gutes Jahrzehnt später, erneut oder zum ersten Mal durch diesen an Informationsfülle kaum zu übertreffenden Schatz voller nachgelassener Gedanken, provokativer Vorschläge, bitterer Erkenntnisse, zum Nachschlagen/Nachgucken anregenden Buch- und DVD-Besprechungen, Erinnerungen an verstorbene Künstler*innen, Kolleg*innen und Freund*innen, öffnet sich zusehends ein Panoptikum des „Who was and who is who“ des Tanzes von Mitte der 1950er Jahre bis in die erste Dekade des 21. Jahrhunderts hinein.

Die Gegenwartsgeschichte des Balletts und so manch weiterhin bedeutsamer Interpret sind darin miteingeschlossen. Staunt man noch heute über den Stuttgarter Principal Friedemann Vogel, dessen Körper man den Zahn der Zeit bei seinen vollendeten Auftritten auch mit über 40 nicht anmerkt, so reicht Koegler dessen Anfänge und Hinweise auf wichtige Karriereetappen nach – immer mit einer dezidiert subjektiven Note. Die himmlischen respektive gnadenlosen Kritikereindrücke kann und soll sich der Leser anderswo holen – stellt Koegler, der das koeglerjournal stets als persönliches Tagebuch mit Kommentarfunktion, das er mit anderen teilt, und nicht als Rezensionssammlung begreift – an dieser Stelle apodiktisch fest.

Das zu untermauern, wurde er nicht müde und ließ dabei durchaus eine ihm eigene Charakterschärfe durchblicken – so auch im Einstieg zu seiner bereits vierten Besprechung von Marco Goeckes erstem Abendfüller „Orlando“ für das Stuttgarter Ballett: „Da auch im zehnten Jahr des Erscheinens ein paar ‚User‘ immer noch nicht kapiert haben, dass es sich beim koeglerjournal nicht um eine Kritik handelt, sondern um das, was man heutzutage ein Blog (Weblog) nennt, muss ab und zu daran erinnert werden, dass es sich um ein persönliches Statement handelt, das durchaus auch eine Kritik enthalten kann, aber sich von einer ‚seriösen Kritik‘ denn doch wesentlich unterscheidet.“ Eben das macht den Wert des Blogs heute aus – insbesondere für Menschen, die den unermüdlichen Theatergänger noch live erleben durften: zwar vom Alter gebückt, aber immer zu Gesprächen bereit.

Koeglers Autorenkürzel war das knappe „oe“. Weshalb verrät er, anders als den schleichenden Verfall seines Köpers, dem er bis zum Schluss einen wachen, neugierigen und kritischen Geist entgegensetzte, nicht direkt. Es ist vielmehr sein Wink mit dem Zaunpfahl auf die ungewöhnliche Schreibung seines Nachnamens. Und wehe dem, der die zwei Buchstaben mit dem Umlaut „ö“ vertauschte. Koegler, der in Berlin aufwuchs, mochte es gern originell. Zwar war er selbst – erfasst vom Schwung oder Furor seiner Beiträge, die sich noch so lesen, als ob man dem Mann direkt zuhören würde – nicht vor Schreib- und Tippfehlern gefeit, doch wer jemals dem Fachbegriff Pas de deux den falschen, sächlichen Artikel voransetzte, konnte sich seines ewigen Zorns sicher sein. Denn wenig war Koegler heiliger als Maskulinität.

So sehr er in einigen Punkten belehrend wirkte, umso mehr liebte er den Meinungsdiskurs, wenn es um die Beurteilung und Einschätzung von Bühnenstücken ging. Deshalb versetzte ihn mit zunehmendem Alter die wachsende Einschränkung der medialen Berichterstattung über Tanz in Rage. Seinen Blog fürs tanznetz – einem der ersten überhaupt und über Ballett und Tanz sowieso – startete er deshalb mit folgenden Zeilen, die zugleich eine Begründung für sein ganz persönliches Alterswerk sind:

Ein Wort vorweg: Der alarmierende Rückgang der Tanzberichterstattung selbst in den ambitionierteren deutschen Tageszeitungen – mit Ausnahme der FAZ und der WELT – sowie die überproportionale Berücksichtigung der Off-Szene und ihrer Persönlichkeiten in „Europe’s Leading Dance Magazine“ haben zu dem Versuch ermutigt, in der Form eines Tagebuchs im Internet rasch auf aktuelle Vorkommnisse der Tanzszene zu reagieren. Dabei kann es sich nur um eine Auswahl von Ereignissen handeln, die der Verfasser in eigener Verantwortung trifft. Kritische Kommentare sind nicht zu verwechseln mit Kritiken, für die es bei tanznetz.de eine eigene Rubrik gibt.

Schon 1992 war Horst Koegler der Deutsche Tanzpreis verliehen worden. Unter den professionellen Tanzberichterstatter*innen war er ein fleißiger, flink und flüssig schreibender wie sprechender Nerd – stets bereit, ausgiebig zu loben oder zu tadeln. Ganz im Stil von Thomas Mann erfand er Worte, um die eigene deskriptive Qualität auf die Spitze zu treiben, und um bestimmten Passagen mehr Ausdruck zu verleihen, wechselte er mitunter gar ins Englische oder Französische. Koeglers Sprache mutet wie die eines – von einer immensen Gedankenfülle getrieben vor sich hin Plaudernden an – ohne Punkt und Komma und mit einer Vorliebe für Aufzählungen, die er fast konsequent noch durch Einschübe voller zusätzlichen Informationsinputs unterbricht.

All das und noch viel mehr gab es bei der monatelangen Aufarbeitung, Verschlagwortung, Redaktion durch viele tanznetz-Relaunches verrutschter Formatierungen des koeglerjournals (wieder) zu entdecken.

Abschließend darf die Eingangsfrage aufs Neue gestellt werden: Wann wird man die tanzhistorische Dimension des koeglerjournals erkennen und zu würdigen wissen?

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