Das Leben ist kein langer, ruhiger Fluss

„Seven Ages“ von Marco Goecke beim Origen Festival Cultural

Kunst transzendendiert im Idealfall unser Dasein. Der Komposition von Kirill Richter und der Choreografie von Marco Goecke gelingt das auf beglückende Weise.

Savognin, 06/03/2023

Selbst in einer Spielstätte, die ohne Vorhang auskommt, wird der letzte fallen. Im Julierturm wird es Ende August so weit sein. Danach wird das Origen Festival Cultural im schweizerischen Graubünden auf diesen so besonderen Theater-Kraftort inmitten rauer Natur verzichten müssen, da der Turm im Herbst wie geplant abgebaut werden wird. Aber vielleicht trägt auch seine flüchtige, dann knapp sechsjährige Existenz zu seiner Magie bei. Das letzte Winter- und kommende Sommerprogramm steht aus naheliegendem Grund unter dem Motto „Zeit“.

Auch Kirill Richter hat sich dieses großen Themas in seiner jüngsten Komposition „Seven Ages“ angenommen, seit 2019 bereits sein drittes Werk, das beim Origen Festival Cultural Premiere feiern durfte. Das Festival bietet dem äußerst erfolgreichen jungen russischen Komponisten und Pianisten momentan ein Refugium zum Leben und Arbeiten. Mit der Violinistin Alena Zinovieva und dem Cellisten Avgust Krepak tritt Richter schon länger gemeinsam auf; mit Marco Goecke ist er seit vergangenem Jahr künstlerisch verbunden. Kirill Richter schreibt im Programmheft über Marco Goecke, er halte dessen Arbeit für das Beste, was dieser Musik in ihrer choreografischen Ausgestaltung passieren konnte. Goecke schätzt umgekehrt an Richters Musik, dass sie sowohl eigenständig und kraftvoll ist als auch dem Tanz Raum gibt. Für seine neue Choreografie hat er in  Anne Jung eine charismatische Tänzerin gefunden.

Kirill Richter hat seine Komposition nach einer intensiven dreimonatigen Schaffensphase erst kurz vor der Premiere vollendet, man wünscht sich eine baldige Aufnahme. Der berühmte Monolog von Jacques im 2. Akt von Shakespeares „Wie es Euch gefällt“ lieferte ihm die thematische Grundlage wie auch die siebenteilige Struktur der Suite:

Die ganze Welt ist Bühne 
Und alle Frauen und Männer bloße Darsteller. 
Sie treten auf und gehen wieder ab, 
Sein Leben lang spielt einer manche Rollen.
Durch sieben Akte hin.

Richter bildet mit dieser Komposition das Mysterium des Lebens ab, das sich zwischen Geburt und Tod entfaltet; er vertont Shakespeares Metapher mitreißend als Sinnbild menschlichen Lebens.

Die sieben Lebensphasen, die das Trio auf diesem Weg des Entstehens und Vergehens musikalisch durchschreitet, nimmt die Choreografie in dem von schwarzem Schnee bedeckten äußeren doppelten Bühnenrund auf, in und auf dem sich Anne Jung wie im Rad der Zeit bewegt. Und, wie Intendant Giovanni Netzer es bei seiner Einführung treffend beschrieb: „Sie schont sich nicht“. Goecke ist ein Meister des Solos und hat in ihr für diese neue Arbeit eine Darstellerin gefunden, die seine Bewegungssprache phänomenal umsetzt. Die Tänzerin muss mit wenig Platz auskommen, aber wie in so vielen seiner Werke schafft Goeckes Choreografie es auch hier, mit einem begrenzten Bewegungsradius und hochkonzentrierter Körperspannung eine große innere Weite zu erschließen. Mit jeder der extrem präzisen, teils flatterhaften Bewegungen, die so charakteristisch sind für seine Werke, stupst Anne Jung die Seele an einer neuen Stelle an. Sie ist ausdrucksstark bis in die Fingerspitzen. Die Rollen, die der Shakespeare’sche Monolog vorgibt - Kind, weinerlicher Bube, Verliebter, Soldat, Richter, Greis und Tod – füllt sie mit der Atmosphäre und den intensiven Emotionen des entsprechenden Lebensabschnitts. Hemd, Maske, Zigarre, Mantel, Stock sind spärliche Requisiten. Im letzten Abschnitt nimmt sie, in schwarzem Mantel und teils auf einen Stock gestützt, im Bühnenrund den Weg im Rad des Lebens zurück, für den „letzten Akt, mit dem die seltsam wechselnde Geschichte schliesst“, der „zweite Kindheit, gänzliches Vergessen, ohne Augen, ohne Zahn, Geschmack und alles“ ist. Dabei rieselt sanft schwarzer, wunderschön beleuchteter Schnee auf die Szenerie, bis sie zusammengesunken sitzt, den Stock zerbricht und die Musik verstummt. Ein Ende, das zu Tränen rührt, weil es auf so poetische und unmittelbare Weise mit der Endlichkeit konfrontiert.

Umfangen wird der Abend von der unglaublichen Natur auf dem Julierpass, die in der einbrechenden Dunkelheit durch die Turmfenster immer wieder an das Ehrfurcht erweckende, nicht fassbare große Ganze erinnert, in dem unser Lebensdrehbuch nur eine winzige Episode ist.

Es ist ein erhabener Moment, wenn Kunst es vermag, für einen Augenblick die Zeitlichkeit zu transzendieren. Mit „Seven Ages“, dieser kongenialen Synthese aus Musik und Tanz, die das Publikum nach einem versunkenen Moment andächtiger Stille mit stehenden Ovationen bedachte, ist dieses auf beglückende Weise gelungen. Schön, dass man diesen Abend im Festivalprogramm nicht missen muss.

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