„In Esisto“ von Vittoria Girelli. Tanz: Martino Semenzato, Mackenzie Brown, Lassi Hirvonen

„In Esisto“ von Vittoria Girelli. Tanz: Martino Semenzato, Mackenzie Brown, Lassi Hirvonen

Bruchstückhafte Erinnerung, klare Vision

Zum neuen Stuttgarter Ballettabend „Creations X – XII“ mit hausgemachten Choreografien

Die jungen Choreograf*innen setzen mit großer Stilsicherheit auf die Gesamtwirkung von Bühne, Kostümen, Musik und Licht und ein bisschen weniger auf eine wagemutige eigene Tanzsprache.

Stuttgart, 31/05/2023

Als der Stuttgarter Ballettintendant 2019 ein neues Format mit aktuellen Uraufführungen startete, ersparte er den eingeladenen Choreograf*innen thematische Vorgaben und der Dramaturgie die Mühe, einen griffigen gemeinsamen Nenner für die Stücke des Abends zu formulieren. Seitdem firmieren diese Tanzabende unter dem Titel „Creations“ mit durchlaufender Nummerierung. Mit Corona-bedingter Verzögerung hatte jetzt die vierte Ausgabe dieser Reihe Premiere. Gab es anfangs noch illustre Gäste wie zum Beispiel Martin Schläpfer, so ist „Creations X – XII“ fest in der Hand ehemaliger oder aktueller hauseigener Tänzer*innen. Hübscher Zufall: Alle Drei stammen ursprünglich aus Italien; kein Zufall: Alle Drei haben ihr choreografisches Talent schon mehrfach unter Beweis gestellt. Eine weitere Gemeinsamkeit: Alle Drei lassen, bei aller Unterschiedlichkeit der künstlerischen Konzepte, auf Socken tanzen.

Vittoria Girelli, die in der „Creation“-Reihe schon auf sich aufmerksam machen konnte, hat sich mit „In Esistio“ einer anspruchsvollen ästhetisches Herausforderung gestellt. Ihr Anspruch ist es, einen quasi unwirklichen Kunstraum zu schaffen, an der Bruchstelle zwischen Realität und Unendlichkeit. Für die Schöpfung dieser höchst speziellen Bühnenatmosphäre hat sie mit dem amerikanischen Konzeptkünstler A.J. Weissbard (Bühne und Licht) einen prominenten Mitstreiter gefunden. Er verwandelte die Stuttgarter Bühne in einen leeren Museumsraum, der durch raffiniertes Licht zur begehbaren Installation wurde. Im scharfen Gegensatz zur strengen Geometrie des Raums lässt Vittoria Girelli vierzehn Tänzer*innen (in von ihr selbst kreierten weiten vanillefarbenen Hosen und weißen Oberteilen) in einem endlos wirkenden Strom organischer, fließender Bewegungen agieren. Für den musikalischen Part zeichnet Davidson Jaconello (Ex-Tänzer im Mannheimer Ballett aus der Ära von Kevin O’Day) verantwortlich, inzwischen längst gefragter Komponist und Arrangeur. Raum, Licht, Klang und Tanz entwickeln in der halbstündigen Choreografie einen faszinierenden Sog – den das Publikum mit Jubelschreien quittiert, noch ehe der Vorhang ganz gefallen ist.

Einer ganz anderen Art von Unwirklichkeit ist Alessandro Giaquinto auf der Spur, nämlich der Arbeit des emotionalen Gedächtnisses, das sich auch im Fall der Trauer um einen geliebten Menschen nicht um chronologische Abläufe und stringente Geschichten schert. Für „Ascaresa“ (Nostalgie) schuf die Bildhauerin Chiara Bugatti einen Bühnenraum, der von Abriss und Neubau erzählte. Einer der Tänzer schält sich anfangs förmlich aus einem Beton-Trümmerteil – drei Bühnenhohe, rostige Vierkantsäulen zeigen bedrohlich zum Himmel, im Hintergrund ist ein Sandberg aufgeschüttet. Was wie eine Baustelle aussieht, wird später zur eindrucksvollen Metapher für Verlust, wenn der Sandhaufen effektvoll implodiert. Rot und schwarz sind die beherrschenden Farben der Zweiteiler, in die Mylla Ek die neun Tänzer*innen steckt. Allessandro Giaquinto, musikalisch unterstützt durch Claudio Borgianni, ist auch im Tanz vielen widerstreitenden, berührenden Emotionen auf der Spur.

Fabio Adorisio, der das Publikum im Rahmen der „Creations“-Reihe schon seinen augenfälligen Abschied von der eigenen Bühnenkarriere mitgenommen hat, liefert mit „Lost Room“ einen melancholischen Ausklang. Unterstützung für Bühne und Kostüme hat er dabei von Thomas Mika, der die Tänzergruppe in glänzendem Unisex-Schwarz in einen von hohen dunklen Stellwänden begrenzten Bühnenraum schickt. Umgeben von einem Verhau, der jede Spiegelung, jede Lichtreflexion verweigert (Licht: Kees Tjebbes), bleibt den Tänzer*innen nur die Besinnung auf die eigene Emotionalität und die Macht der Gruppe. Für die mitreißende Rhythmisierung seiner Choreografie arbeitet er einmal mehr mit dem hauseigenen Komponisten und Schlagzeuger Marc Strobel zusammen, der eine Auftragskomposition zusammen mit Cellosonaten von Rachmaninoff und Grieg arrangierte. Fabio Adorisio beweist dabei ein mehr als gutes Händchen für die Wechsel zwischen dem Nachspüren individueller Befindlichkeit und mitreißender unisono-Sequenzen.

Die jungen Choreograf*innen setzen mit großer Stilsicherheit auf die Gesamtwirkung von Bühne, Kostümen, Musik und Licht und ein bisschen weniger auf eine wagemutige eigene Tanzsprache – das wäre ein mögliches Fazit dieses Abends. Wäre da nicht Vittoria Girelli mit ihrem eigenwilligen organischen Bewegungsvokabular, das fast schon als Markenzeichen gelten darf...
 

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern