„Self-deceit“ von Vittoria Girelli. Tanz: Ensemble

„Self-deceit“ von Vittoria Girelli. Tanz: Ensemble

Reflektionen und Retrospektiven

„Creations VII – IX“ beim Stuttgarter Ballett im Kleinen Haus

Drei sehr unterschiedliche Kreationen zeigen die große Bandbreite der Stuttgarter Kompanie und das Talent ihrer jungen Choreograf*innen aus den eigenen Reihen.

Stuttgart, 27/06/2022

Eine weitgehend abgedunkelte Bühne, in der Mitte ein amorpher Haufen übereinander geschichteter menschlicher Leiber, von oben angestrahlt über einen Lichtkegel, sich spiegelnd in einem glänzenden Tanzteppich wie in einem See. So beginnt ein überaus spannender Ballettabend im Kleinen Haus der Württembergischen Staatstheater: „Creations VII – IX“. Es sind jeweils 30- bis 40-minütige Werke von Tänzer*innen aus der eigenen Kompanie, die fortlaufend durchnummeriert werden und jeweils im Rahmen der Spielzeit gezeigt werden. In diesem Jahr sind es „Self-Deceit“ von Vittoria Girelli, „Reflection/s“ von Roman Novitzky sowie „Ifima“ von Louis Stiens und Shaked Heller.

Das Motiv der Spiegelung, der Reflektion und Rückschau zieht sich durch alle drei Werke – was nicht zuletzt dadurch eine besondere Qualität erfährt, dass Roman Novitzky (seit 2009 im Ensemble, seit 2015 als Erster Solist) ebenso wie Louis Stiens (ausgebildet u.a. in der Ballettschule des Stuttgarter Balletts und seit 2012 in der Kompanie, seit 2015 als Halbsolist) und Shaked Heller (seit 2016 in Stuttgart im Corps de Ballet) mit dem Ende der Spielzeit das Stuttgarter Ballett verlassen werden. Novitzky beendet seine Bühnenlaufbahn, bleibt dem Haus aber als Fotograf und Artist in Residence erhalten. Stiens und Heller wenden sich jeweils anderen Wirkungsstätten zu.

Vittoria Girelli, die Jüngste unter den vier Choreograf*innen, hat mit „Self Deceit” (= Selbstbetrug, Selbsttäuschung) ein nachdenkliches, in sich ruhendes Werk geschaffen, das vor allem durch seine weich fließenden Bewegungsmuster fasziniert. Die sieben Tänzer*innen bewegen sich geschmeidig, bilden immer wieder neue Körperformationen, verweben sich ineinander und umeinander, vereinzeln sich, um dann wieder zu zweit, zu dritt und zu mehreren zusammenzufinden. Die zwei Frauen und fünf Männer sind durch die einheitlichen dunkelblauen Kostüme und streng zurückgegelten Haare kaum voneinander zu unterscheiden – was das Ganze noch einheitlicher und damit umso reizvoller erscheinen lässt. Es ist wie ein langes, gemeinsames Atmen zu einer ausgebufften Lichtregie (Bühne und Licht: A. J. Weissbard) und einem musikalischen Arrangement aus moderner (darunter eine Auftragskomposition von Davidson Jaconello) und klassischer Musik (Ausschnitte aus Streichquartetten von Ludwig van Beethoven). Inhaltlich orientierte sich Vittoria Girelli an einer Bildserie der Fotografin Francesca Woodman aus 1978 in Rom. Es sind seltsam verstörende, düstere Selbstportraits, in denen sie wie mit ihrer Umgebung verschmilzt, sich gewissermaßen darin auflöst. Eine zweite Inspiration bezog Girelli aus der „Göttlichen Komödie“ von Dante Alighieri. Er schaffe, so Girelli, „durch Worte Bilder von großer Körperlichkeit“ und „enormer Ausdruckskraft“. Das ist ihr im Tanz gleichermaßen gelungen.

Das Mittelstück des Abends bildet „Reflection/s“ von Roman Novitzky. Es ist ein Rückblick auf sein eigenes, fast 20-jähriges Tänzerleben, in dem er es nicht immer leichtgehabt hat. Er sei nie supertalentiert und nie ein rein klassischer Tänzer gewesen, sagt er von sich selbst. Das Kämpfen habe zu seiner Karriere gehört. Mit „Reflection/s“ schaut er nachdenklich auf diese Vergangenheit zurück: „Ich schaue mich selbst im Spiegel an, wie ich im Ballettsaal an der Stange stehe, wo alles begann“, schreibt er selbst im Programmheft. „Was sich mir seitdem eröffnet hat, was sich entwickelt hat. Ich sehe die Angst, die Herausforderungen und die Freude darüber, es durchzustehen. Was ich erreicht habe. Und was vielleicht nicht. Noch nicht.“ Und so beginnt das Stück tatsächlich damit, dass wir einen Mann sehen, der vor der Ballettstange am Boden liegt – dem morgendlichen Ritual aller Tänzer*innen. Er erhebt sich und schaut in sein Spiegelbild (für das raffiniert-spektakuläre Bühnenbild und die ausgefeilte Lichtregie zeichnet Yaron Abulafia verantwortlich). Man sieht die Zweifel, die Schwächen, das nie endende Streben nach Perfektion, die Niederlage, den Triumph. Die Stange weicht schließlich großformatigen silbrig-gehämmerten Splittern, die wie zerbrochene Scheiben die Bühne unterteilen. Sechs Frauen in silbrigen Overalls (Kostüme: Aliki Tsakalou) formieren sich um den einsamen Mann. Tanz und Musik gewinnen an Dynamik und Aggressivität. Hinzu kommen drei Männer und drei Frauen in blassgrauen Anzügen bzw. Hosenröcken, eine von ihnen sticht heraus, wird mit komplizierten Hebungen erhöht: Es ist Roman Novitzkys Frau Miriam Kacerova – eine Reminszenz an die Liebe und ebenso an die Virtuosität des Tanzes zu einer eigens für das Stück komponierten und arrangierten Musik (mit großartigen Saxophon-Soli) von Magnus Mehl und Philip Kannicht. Hinreißend schöne Pas de Deux wechseln sich ab mit vielfältigen Ensembles – choreografisch ist „Reflection/s“ sicher das anspruchsvollste Stück des Abends, noch dazu hervorragend getanzt von Mitgliedern der Kompanie.

Teil 3 ist jedoch nicht minder aufregend: „Ifima“ für zwei Tänzer und eine Tänzerin von Louis Stiens und Shaked Heller. Der Titel ist ein Fantasiewort, eine Art Sehnsuchtsland. Auf der Bühne ist es nur mehr oder weniger schwimmend erreichbar, denn nach einem kurzen ersten Teil, in dem sich die zwei Tänzer (die Choreografen selbst) und eine Tänzerin (Angelina Zuccarini) zu kurzen Begegnungen finden, wird die Bühne in einem abgegrenzten großen Rechteck geflutet. Das Wasser mit seinen Reflektionen wird zu einem reizvollen Spiegel und erweitert das Bild durch die von Füßen und Körpern in der Bewegung hervorgerufenen Wasserfontänen. Dazu passend neben Klaviermusik von Mozart die Klangcollage von Anni Nöps, die die Töne von schmelzendem Eis eingefangen hat – manchmal klingt das wie dunkle Walgesänge aus den Tiefen des Ozeans, mal wie knarzende Türen, knirschendes Glas oder quietschendes Gummi, auf jeden Fall sehr geheimnisvoll. Im Wasser stehen monolithartige, verschiebbare Felsbrocken, die mit in den Tanz eingegliedert werden und mal als Ruheort dienen, mal als Versteck. „Ifima“ ist ein wehmütiges und melancholisches Stück, und es spiegelt wohl auch das Gefühl, das jeden Tänzer beschleicht, wenn er an einer Gabelung seines künstlerischen Weges seht, das nächste Ufer noch nicht wirklich in Sicht. Louis Stiens und Shaked Heller haben das zusammen mit Angelina Zuccarini wunderbar in Bewegung und Bilder umgesetzt.

 

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