„Mayerling“ von Kenneth MacMillan. Tanz: Miriam Kacerova, Friedemann Vogel

„Mayerling“ von Kenneth MacMillan. Tanz: Miriam Kacerova, Friedemann Vogel

Von allem Staub befreit

Gelungene Premiere: Kenneth MacMillans „Mayerling“ beim Stuttgarter Ballett

Die Standing Ovations am Schluss galten vor allem ihm: dem wunderbaren Jürgen Rose, dessen Bühnenbild, Kostüme und ausgebuffte Lichtregie dem sonst gern antiquiert wirkenden Stück jeglichen Staub weggepustet hat.

Stuttgart, 19/05/2019

Es hat 27 Jahre gedauert, bis Jürgen Rose, der absolute Großmeister aller Bühnen- und Kostümbildner, in Stuttgart endlich wieder ein Ballett ausgestattet hat. Und dann gleich was für eines: den „Riesenschinken“ (O-Ton Rose) „Mayerling“ in der Choreografie von Kenneth MacMillan. Es ist die Geschichte von Rudolf, dem unglücklichen Habsburg-Thronfolger (1858-1889), einziger Sohn von Kaiserin Sissi und Kaiser Franz Josef, der an dem höfischen Zeremoniell, dessen Verlogenheit und den verkrusteten Traditionen und Zwängen, die ihm auferlegt wurden, zugrunde ging. Er erschoss seine Geliebte und sich selbst im Jagdschloss in Mayerling, was dem Stück seinen Namen gegeben hat. Erzählt wird Rudolfs Werdegang von der unglücklichen Hochzeit mit der langweiligen Prinzessin Stefanie bis zum tragischen Mord an Mary und dem eigenen Freitod.

Schon 2015 hatte Stuttgarts Ballett-Intendant Tamas Detrich mit Engelszungen auf Jürgen Rose eingeredet, um ihn für die Ausstattung dieses dreistündigen Mammutwerks zu gewinnen. Rose, so erfährt man aus einem im Programmheft abgedruckten Interview, wollte sich diese Herkulesarbeit in seinem hohen Alter jedoch nicht mehr antun (er wird im August 82 Jahre alt). Erst Marcia Haydée ist es dann 2016 gelungen, ihn doch noch zu überreden, sich dieser Aufgabe zu stellen – was für ein Glück! Denn diese Aufführung stellt Kenneth MacMillans Choreografie in ein ganz neues Licht, frei von aller Schwere und allem Staub der Originalausstattung von Nicholas Georgiadis (die in Wien, Moskau und 2020 in Paris zu sehen ist). Sie wirkt in vielerlei Hinsicht plötzlich ganz frisch und neu, in manchen Pas de deux (vor allem zwischen Rudolf und seiner Geliebten Mary) geradezu revolutionär. Einzige Bedingung Roses für seine Einwilligung war, dass Marcia mit auf der Bühne steht. Und so kommen für die ersten Aufführungen der Neuinszenierung Stuttgarter Legenden noch einmal zusammen: Marcia als hoheitsvoll-verkniffene Erzherzogin Sophie, Georgette Tsinguirides als ihre beflissene Hofdame und Egon Madsen als jovialer Kaiser Franz Joseph.

Einmal mehr hat Rose hier mit seiner Kunst unter Beweis gestellt, in welchem Ausmaß ein Werk gelingen kann, wenn es im richtigen Umfeld präsentiert wird. Nur dann kann sich die Choreografie so entfalten, wie sie soll. Nur dann stehen die Charaktere der einzelnen ProtagonistInnen so im Fokus, wie es ihnen zusteht. Und nur dann können Tanz, Musik und Bühne so zusammenkommen, dass ein wirkliches Gesamtkunstwerk zustandekommt.

Schon gleich zu Beginn schlägt Rose das Publikum in Bann: Eine düstere Szenerie tut sich auf, in strömendem Regen, der so täuschend echt auf einen dünnen Vorhang projiziert wird, dass man unwillkürlich auf der Bühne nach den Pfützen sucht. Im Hintergrund erscheint eine winterliche Waldlandschaft im Nebel. Eine schwarze Kutsche steht am linken Bühnenrand, die lebensecht nachgebildeten Hinterteile der Pferde ragen noch etwas in die Szene hinein, zwei dunkel gekleidete Männer heben eine rot gekleidete Gestalt aus der Kutsche, legen sie in eine Holzkiste und versenken diese in einem Loch, beobachtet von einem in der Bühnenmitte stehenden Priester. Noch weiß man nicht, um wen es sich bei der Toten handelt.

Das zweite große „Ahhhhh....“ kommt unmittelbar danach, wenn sich der große, in blutrotes Licht getauchte Habsburger Doppeladler vor dem Vorhang herabsenkt, dieser sich am linken Rand etwas öffnet und nun von rechts nach links ein langes Defilée aller Beteiligten beginnt – mit Kostümen, die eine einzige Orgie in Schwarz-Weiß sind, mit allen nur denkbaren Schattierungen von Grau. Grandios! Es gibt auch im weiteren Verlauf des Stückes nur wenige Farbakzente: Grün für die Gräfin Larisch, dunkelrot für Kaiserin Elisabeth, korallenrot für Mary.

Am atemberaubendsten neben den Kostümen sind jedoch die 13 großen, ebenfalls schwarz-weiß gehaltenen Prospekte, die die verschiedenen Räume charakterisieren und für die sich Jürgen Rose „buchstäblich die Finger blutig gezeichnet“ hat, wie er im Programmheft-Interview erzählt. Seine bis ins Kleinste ausgearbeiteten, handgezeichneten Entwürfe wurden von einer Spezialfirma auf bis zu 10 x 6 m große Stoffbahnen gedruckt und vom Theater-Nähsaal per Hand auf schwarzen Tüll von 17 x 12 m appliziert. Andere Stoffe wurden vollflächig in dieser Größe bedruckt. Für die Szenen in der Hofburg ließ er jeweils zwei Prospekte hintereinander hängen, so dass jeweils unterschiedliche Räume betont werden können. Rose schafft damit sowohl eine adäquate, zeitgerechte Szenerie wie auch eine schwerelose Transparenz und Leichtigkeit, die den TänzerInnen genügend Luft und Raum lässt für die Bewegung.

Überhaupt die TänzerInnen: Friedemann Vogel als Kronprinz Rudolf entwickelt vor allem in Teil 2 und 3 die seelische Zerrissenheit und Verzweiflung des jungen Thronfolgers mit beeindruckender Intensität, besonders in den verschiedenen Pas de deux: mit seiner Braut Stephanie (ebenso blasiert und gelangweilt wie verstört über Rudolfs Grobheit: Diana Ionescu), über die er in der Hochzeitsnacht ungeschlacht herfällt; mit Marie Gräfin Larisch (edel-lasziv: Alicia Amatriain); mit Kaiserin Elisabeth, seiner Mutter (hoheitsvoll-elegant: Miriam Kacerova); mit Mizzi Caspar, seiner Mätresse (lebensfroh und dynamisch: Anna Osadcenko); und natürlich mit der blutjungen Baronesse Mary Vetsera (umwerfend in ihrem Ungestüm und ihrer Hingabe: Elisa Badenes), die gleichermaßen verrückt nach ihm wie er nach ihr ist. Alle Beteiligten entwickeln hier ebenso wie das glänzend aufgelegte Corps de ballet in den Gruppenszenen die in Stuttgart gewohnte hohe tänzerische Qualität in Präzision und Darstellung.

Am Schluss rundet sich das Bild: Es ist die gleiche Szene wie zu Beginn, aber jetzt wissen wir, wer in der schwarzen Kutsche saß (ein Original übrigens aus dem Jahr 1885, also genau der Zeit, in der Rudolf lebte, das Rose über eine Kutschen-Reparaturwerkstatt in Südösterreich aufgetrieben hat) – es ist die von Rudolf vor dem eigenen Freitod erschossene Baronesse Mary, die auf Geheiß des kaiserlichen Hofes auf dem Friedhof in Heiligenkreuz in der Morgendämmerung als angebliche Selbstmörderin verscharrt wurde, um den Mord zu vertuschen. Sachte senkt sich dann die Dunkelheit über die Szene, der Vorhang fällt, und ganz langsam und mit ebenso düsteren, leisen Trommelschlägen verhaucht die Musik – facettenreiche Kompositionen von Franz Liszt, orchestriert von John Lanchberry, durch die Mikhail Agrest das Staatsorchester Stuttgart mit sicherer Hand führte.

Das Publikum bejubelte SolistInnen und Ensemble gleichermaßen und erhob sich spontan zu Standing Ovations, als Jürgen Rose auf die Bühne kam. Für alle, die dabei sein durften, wird dieser Abend noch lange in Erinnerung bleiben. Allen anderen ist zu wünschen, eine der kommenden Vorstellungen besuchen zu können.
 

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