„Emergenz“ von José Vidal

„Emergenz“ von José Vidal

Perfekt sortiertes Chaos

Uraufführung von José Vidals „Emergenz“ in der Hamburger Kampnagelfabrik

101 TänzerInnen auf der Bühne, eine perfekte Lichtregie, ein gekonntes Arrangement – die begeisternde Neukreaktion des chilenischen Choreografen José Vidal eröffnete das Live Art Festival #9.

Hamburg, 08/06/2019

Eine Ahnung von dem, was kommt, ereilt das Publikum schon beim Betreten der K6, deren Bühne nicht nur von der Haupttribüne her einsehbar ist, sondern auch an der rechten und linken Seite mit Stühlen für die ZuschauerInnen bestückt ist. Die Bühnenränder begrenzen nebeneinander sitzende TänzerInnen, in schlichte schwarze Hosen und ärmellose Shirts gekleidet, teilweise liegen sie auch, kommunizieren mit und ohne Worte, neigen sich nach links, nach rechts, geben die Bewegung wellenartig an die anderen weiter. Andere legen sich bäuchlings hin und schauen dem hereinströmenden Publikum zu, und wieder andere animieren die ZuschauerInnen dazu, sich mit ihnen auf der Bühne zu tummeln. Gemeinsam laufen alle hin und her, hüpfen, springen, sammeln sich pulkweise, lösen sich wieder auf, um dann wieder zu neuen Formationen zusammenzukommen. Es ist ein munteres Gewusel, und die Profis regen immer wieder neue Bewegungen und Haltungen an, bis schließlich die eigentliche Vorstellung beginnen soll – die ZuschauerInnen nehmen ihre Plätze auf den Tribünen ein, die TänzerInnen reihen sich in die am Boden Sitzenden ein.

Das Licht verlöscht und es setzt ein rhythmisches Pochen ein, dem Herzschlag ähnlich. Eine Tänzerin löst sich aus dem Kreis der am Boden Kauernden und beginnt, sich auf der Bühnenfläche zu bewegen. Durch Blickkontakt fordert sie zwei andere auf, es ihr gleichzutun, und so kommen kaskadenartig alle Mitwirkenden zusammen – 47 professionelle TänzerInnen aus Chile und Hamburg und 54 freiwillige HamburgerInnen, zusammen also 101 Tanzende, die innerhalb von gut vier Wochen dieses neue Oeuvre von José Vidal einstudiert haben. Und nun beginnt ein grandioses schwarmförmiges Um- und Miteinander, ein Hin- und Herwogen, das zusammen mit den sich langsam steigernden Rhythmen (Komposition und Sounddesign Diego Noguera Berger) einen hypnotischen Sog entwickelt – schon alleine vom Zuschauen fällt man fast in Trance.

Nach einer Weile saugt der dunkle Hintergrund alle TänzerInnen von der Bühne, einen Moment bleibt die Bühne leer, bis alle zusammen wieder nach vorne stürmen und sich wie eine Woge über den Tanzteppich ergießen, während Laser-Lichtanlagen ein hüfthohes nebliges Dickicht erzeugen. Hände recken sich wie von Ertrinkenden aus dem Nebelmeer, Köpfe tauchen auf und versinken wieder – magisch ist das, verstörend auch, aber vor allem von einer bezwingend schönen Ästhetik. Schließlich erheben sich immer mehr, tauchen auf, wie neugeboren – und aus den schwarzen Kostümen sind silbrig-graue geworden (das Umziehen erfolgt für die Zuschauer kaum wahrnehmbar unterhalb des Nebelteppichs). Der Nebel weicht einem warmen Orange, in dem sich alle von Neuem zu weiteren Formen sammeln, kreisförmig zusammentun, rennen, laufen, auseinanderdriften, erneut zusammenkommen. Ein Trompetensolo ertönt aus der hinteren Bühnenmitte – elegisch schön. Zum Tanz kommen jetzt auch lautmalerische Töne im Chor – bis alle im Lauf verharren und das Licht verlischt.

José Vidal ist es gelungen, dieses Chaos von 101 TänzerInnen auf faszinierende Art und Weise perfekt zu sortieren. Man mag gar nicht aufhören zu schauen und zu staunen. Viel zu schnell sind die 60 Minuten, die die Aufführung dauert, vorbei. „Emergenz“ ist eine kollektive Bühnenübung für das echte Leben, die uns zwangsläufig damit konfrontiert, was es heißt, in der Gegenwart zu leben: Wir stehen vor Problemen, die sofort und gemeinsam gelöst werden müssen“, wird José Vidal im Programmzettel zitiert. Aktueller, zeitgemäßer, notwendiger kann Tanz kaum sein. Das Publikum war zu Recht komplett aus dem Häuschen.
 

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