„Out“ von Ivo Dimchev. Tanz: Christopher Roman

Jenseits der letzten Vorstellung

Der zweite Abend des Festivals OUT OF NOW – DANCE ON im HAU Berlin

„Katema“ von Lucinda Childs, „Legítimo/Rezo“ von Jone San Martín, Josh Johnson und William Forsythe sowie „Out“ von Ivo Dimchev getanzt von Ty Boomershine, Jone San Martín und Christopher Roman

Berlin, 02/03/2018

Der alternde Körper hat in medizinischen, sport-, tanz-, und kulturwissenschaftlichen Forschungszusammenhängen ebenso Konjunktur wie in gesellschaftspolitischen Debatten etwa um das Renteneinstiegsalter oder verbleibende Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Fragen, die uns der alternde Bühnenkörper im Tanz stellt, unterscheiden sich also nicht zwingend von jenen des alternden Körpers, der etwa auf dem Bau arbeitet oder anderen, noch älteren Körpern, die Pflege bedürfen. Der entscheidende Unterschied liegt in der Selbstverständlichkeit, mit der ein alternder Bühnenkörper im Tanz spätestens um das 40. Lebensjahr von der realen, aber auch imaginären Bühne der Zuschauer*innen verschwindet. Denn wenngleich die Gründung des Berliner DANCE ON Ensembles im Jahr 2015 nicht die erste Gelegenheit für Ü-40-Tänzer*innen darstellte, auf der Bühne bleiben zu können – denkt man etwa an die generationenübergreifenden Kompanien von Pina Bausch und Sasha Waltz & Guests, oder auch an Meg Stuart, Benoît Lachambre oder Anne Teresa de Keersmaeker – so ist es doch Neuland, das Alter explizit ins thematische Zentrum tänzerischen Schaffens und noch dazu eines gesamten Festivals zu verlagern.

Der zweite Festivalabend von „OUT OF NOW – DANCE ON“ beginnt mit einer Diagonalen, die Ty Boomershine, Ensemblemitglied von DANCE ON und unter anderem ehemaliger Tänzer der Lucinda Childs Dance Company, Stück für Stück in den Raum schreibt. Entlang des durch Scheinwerfer vorgezeichneten Raumweges erscheint die formale Strenge der wiederholten Bewegungselemente erbarmungslos. Sobald Ty Boomershine nach einer schwungvollen Drehbewegung auch nur kurz vom Raumweg der Diagonalen abweicht, sobald sein tiefer Atem mit dem hörbaren Rhythmus seiner Schrittfolgen konkurriert, sobald sich erster Schweiß auf seinem weißen T-Shirt abzeichnet, scheint sich auch das Alter seines Körpers zu zeigen. Aber wäre das nicht zu kurz gedacht? Geht es hier nicht vielmehr um den Körper an sich, dessen Individualität im Kontrast steht zur Strenge der Bewegungsabfolgen auf einer einzigen Diagonalen? Einem jungen Tänzer hätte man womöglich Unerfahrenheit unterstellt. Und so führt bereits Ty Boomershines 15-minütige Rekonstruktion von Lucinda Childs „Katema“ aus dem Jahre 1978, gerade indem der alternde Körper ins Zentrum gerückt wird, die Macht mentaler Schubladen vor.

Vom HAU3 geht es forschen Schrittes zum HAU2 zu „Legítimo/Rezo“. Die enge Taktung der Vorstellungen lässt dabei wahrhafte Festivalgefühle bei den Besucher*innen aufkommen. Jone San Martín, die das Konzept für „Legítimo/Rezo“ gemeinsam mit Josh Johnson und William Forsythe entwickelte, sitzt auf einem Sessel auf der Bühne, neben ihr eine Stehlampe, dahinter eine Zimmerpflanze, vor ihr auf dem Tisch Blätter mit Notizen. In einer Art Lecture Performance wird die ehemalige Forsythe-Tänzerin das Publikum in einige der choreografischen Prinzipien William Forsythes einführen. Sie wird uns einweihen in die in den 1980er Jahren entworfene grundlegende Bewegungsphrase „Tuna“ – because tuna goes with everthing – und das alle Raumrichtungen durchkreuzende Bewegungselement „The Washing Machine“. Spätestens mit der Frage aus dem Publikum, wie es sich wohl anfühle, diese Bewegungen mit einem nun älteren Körper zu tanzen, muss das bequeme Setting der informativen Lecture Performance kippen. Stehlampe und Sessel werden alsbald von der Bühne geräumt und Jone San Martín wird die zuvor sorgsam auseinanderdividierten, choreografischen Pattern in einer ihr ganz eigenen Weise interpretieren. Mit angeklebtem Bart und einer fast dämonisch-monströsen unverständlichen Sprache, die von Zeit zu Zeit wie das Vor- und Zurückspulen eines Tonbandgerätes klingt, rückt sie das Material jener Bewegungsprinzipien in den Vordergrund – ihren individuellen Körper. In diesem Moment zeigt sich, wie die Rückschau im Betreten des Körpergedächtnisses mit einem Male in das Hier und Jetzt noch unbegangener Pfade kippen kann. Ein großer Moment an diesem Abend, der die Programmatik des „OUT OF NOW“ erfahrbar auf die Bühne bringt.

Die Premiere von Ivo Dimchevs „Out“, kreiert für den Balletttänzer und künstlerischen Leiter des DANCE ON Ensembles Christopher Roman, beschließt den Abend. Während auf meinem Schoß eine Kinderwindel und auf der Schulter meines Nachbars eine weiße Socke nebst Tampon landet, ergründet „Out“ in mehreren Akten nicht nur die Vielfalt von Christopher Romans Performancerepertoires – die allerdings beim Gitarre spielen ein abruptes Ende findet – auch umkreist diese Produktion mit vielen Worten mal verzweifelt, mal bloßstellend und dann wieder sarkastisch-ehrlich die Erfahrungen eines solchen Lebens auf und mit der Bühne.

Abseits der Vorstellung betont Christopher Roman, dass DANCE ON relevante Arbeit leisten und Teil eines Dialogs sein wolle, der deutlich macht, dass jeder Mensch jederzeit einen Körper braucht, um sich zu bewegen – physisch wie mental. Ob es nun um den Körper auf dem Bau, in der Pflege, im Alltag oder auf der Bühne geht. Das Credo dieses Abends muss sicher noch einen langen Weg gehen: den sich im Laufe eines Lebens wandelnden Körper, nicht mit Mangel gleichzusetzen, sondern ihm in einem ebenso stetigen Wandel zu begegnen jenseits normativer Überformungen.

 

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