In neue Räume aufbrechen
Die Preisträger*innen des Deutschen Tanzpreises 2024
Die Eröffnung des Tanzkongresses Deutschland
Forsythes Vierer-Bande In William Forsythes „N.N.N.N.“ (uraufgeführt 2002 und im gleichen Jahr mit großem Erfolg auch in Berlin zu sehen) verschlingen sich rasant beschleunigt die Arme, Beine, Körper von Cyril Baldy Amancio Gonzalez, Georg Reischl und Ander Zabala. Eine Hand auf dem Kopf, der Schulter, der Hüfte des Anderen, spielerisches Halten und Verlieren, Berühren und Sich Verweigern. Atemluft treibt die stummen Exerzitien auf leerer Bühne. Aberwitzige Annäherungsversuche in extremer Beschleunigung. Gliedmaßen, die den eigenen Körper fliehen, sich an den anderen andocken.
Ein grandioses menschliches Perpetuum mobile im ständigen Wechsel von Distanz, Nähe, Ruhe und Ekstase. Ein Männer-Quartett unterschiedlicher Stimmen, das einmal mehr unterstreicht, wie musikalisch Forsythe seine Tanzpartituren zu schreiben versteht. Vier „Namenlose“ aus unendlich vielen Einzelteilen, die gleichermaßen überrascht wie fasziniert den eigenen und fremden Körperimpulsen ausweichen, nachjagen, zu einander strebend, doch stets ein brüchiges Ganzes bildend. Es gibt keinen Stillstand, nur Zerfall in einem furiosen Crescendo. Ein Feuerwerk an Bewegungsphantasie!
Solo für Vladimir Malakhov (Uraufführung)
Gespannte Erwartung der tausend Zuschauer im vollbesetzten Auditorium galt der ersten Zusammenarbeit von Choreografin Sasha Waltz und dem Intendanten des Staatsballetts Berlin und Protagonisten der internationalen Ballettszene Vladimir Malakhov. In der innigen Umarmung beider Künstler zum herzlichen Schlussapplaus spiegelte sich für alle sichtbar eine beglückende Begegnung künstlerischer Antipoden. Das viertelstündige Solo, entstanden im letzten Monat, folgt dem Motiv des Schreis in einer biografisch geprägten selbstironischen Offenbarung aus Bewegungssequenzen, Gesten und (erstaunlicherweise) Worten.
Der Tanzstar fliegt in den Bühnenraum, dreht und hält über einem ostinaten Orgelton jäh inne, zieht die Schläppchen aus, steht rücklings zum Zuschauer, lacht laut mit gebeugten Rücken, dreht sich blitzschnell um. Totale Stille. Lange schaut er ins Publikum, sein Mund öffnet sich und erstarrt im grimassierten Schrei. Was folgt sind weniger tänzerische Bewegungen, sondern erzählte Lebensstationen, die er gestenreich in den Raum malt. Balkone und Straßenbahnen in seiner Heimatstadt, Sterne auf seinen Körper, die Erinnerung an seinen ersten Lensky, an Giselle, Ängste. Er repetiert Posen. Während über eine mehrfach verzerrte Tonspur das Schwanensee-Thema im Raum schwingt, liegt er wie mit gebrochenen Flügeln am Boden.
Die erste Begegnung von Odette und Siegfried findet nur in den englisch gesprochenen Untertexten Malakhovs statt. Genau dieser Umstand des bewussten Aussparens der hochartifiziellen tänzerischen Hauptaktion und ihr rudimentärer Ersatz durch Worte zeigt gleichermaßen Freiraum wie Fessel klassischen Tanzes. Nach der Vorstellung, essen, zu Bett gehen, Augen schließen. Mit gepackten Sachen streben drei Tänzer an ihm vorbei über die Bühne dem Ausgang zu. Malakhov schickt ihnen ein leises „bye“ hinterher und versinkt im Black. Ein melancholisches Solo, das wie die Vorstudie zu einer Fortsetzung drängt, die den großartigen Tänzer mutiger in expressive Ausdrucksbereiche drängen möge. Malakhovs stummer langer Schrei frontal zum Publikum prägt sich ein.
Schwarzmarkt des Wissens
„Buchen Sie einen Experten für eine halbe Stunde und für einen Euro!“ Der Aufforderung folgten viele Kongressbesucher und schon nach kurzer Zeit später waren alle Gesprächsrunden ausgebucht. Als eine wunderbare Einstiegsdroge in den Tanzkongressmarathon ums Wissen erwies sich am Eröffnungsabend von 20.30 Uhr bis Mitternacht der „Schwarzmarkt für nützliches Wissen und Nichtwissen“. Diese Installation der Mobilen Akademie von Hannah Hurtzig verwandelte das Restaurant in einen temporären Schau- und Produktionsraum. 39 Einzeltische, intim beleuchtet wie im Lesesaal, boten in vier halbstündigen Runden Platz für je einen Experten und einen Klienten.
Der Schwarzmarkt, bei dem jeder für einen Euro pro halbe Stunde eine oder einen der hochkarätigen Experten aus Praxis, Lehre, Politik, Ausbildung ganz individuell buchen konnte, geriet zu einem lustvoll lockeren, im Tanzbereich bis dato unbekannten Wissenstransfer. Bis kurz vor Mitternacht lag ein permanentes Getuschel im weiten Raum im Haus der Kulturen der Welt. Über Kopfhörer konnten die anderen Kongressbesucher je sechs ausgewählte Gespräche mitverfolgen. „Woher weiß ich, dass ich mich bewege? Wie kann ich Stress abbauen? Produktionsstrukturen und Antragsformulierung? Welche Atemtechnik hilft gegen Lampenfieber? Wie funktioniert unser Denken in Bildern? Wie bewerte ich die Bewegung eines Pferdes? Visionen von Tanz, Trance, Revue, HipHop? Gibt es Netzwerke der Bewegung?“ Paarweise saß man sich gegenüber und die anfängliche Befangenheit wich der Lust auf Frage und Antwort, bei der nur immer wieder neue Fragen im Raum standen, bis der große Gong zum letzten Mal geschlagen wurde.
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