„Prosperos Insel“ von Bridget Breiner. Tanz: Ayako Kikuchi und Valentin Juteau

„Prosperos Insel“ von Bridget Breiner. Tanz: Ayako Kikuchi und Valentin Juteau

Stürme im Mittelmeer

„Prosperos Insel“ von Bridget Breiner bei den Ruhrfestspielen

Bridget Breiner hat nicht die aktuelle Katastrophe kommentiert, sondern Bilder von Menschen gezeichnet.

Marl, 06/06/2016

Bridget Breiner ließ sich für ihre erste Zusammenarbeit mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen vom diesjährigen Thema mitnehmen: „Mare Nostrum“. Das Mittelmeer, von den ‚alten’ Römern als Eigentum vereinnahmt, seit Urzeiten (auch) Transitzone zwischen afrikanischen und europäischen Kulturkreisen, ist ganz aktuell wieder in aller Munde und für so viele Flüchtende noch immer „Raum der Hoffnung“, wie Schiller das Meer definierte.

Auch Shakespeares Prospero flieht vor seinen Pflichten als Herzog von Mailand auf eine kleine Insel, in der Hoffnung, sich ganz seinen Büchern, Zauberkünsten und der kleinen Tochter Miranda widmen zu können. Sogleich jedoch macht er sich die beiden Bewohner - den Luftgeist Ariel und den Halbmenschen Caliban - untertan, lässt der heranwachsenden Miranda kaum Freiheiten. Als sein Widersacher Alonzo, König von Neapel (hier: Prosperos Nachfolger in Mailand), samt Gemahlin Antonia und Hofstaat sich der Insel nähern, entfacht er einen Sturm, der die Gestrandeten auf das Eiland spült und seinen Zauberkünsten ausliefert. Dass er letzten Endes Miranda an Alonzos Sohn Ferdinand verliert, bringt ihn im Epilog zu der Erkenntnis, dass er alles verloren hat - und auf das Wohlwollen des Publikums angewiesen ist, ihm durch seinen Applaus Nachsicht zu zeigen, damit er in Zukunft mit Verantwortung und Selbstachtung leben könne. Das Premierenpublikum im kleinen Theater Marl geizte wahrlich nicht mit Ovationen am Ende eines grandiosen Theaterfests aus Bewegung, Klang, Licht und symbolträchtigen Bildern.

Wer Shakespeares letztes Schauspiel „Der Sturm“ nicht sehr präsent hat, könnte angesichts mancher Veränderungen der Shakespeare-Vorlage mit der Handlung an diesem Ballettabend gelegentlich ins Straucheln geraten. Aber was tut's. Breiner zeichnet menschliche Charaktere und Zauberwesen, wirft Fragen nach Menschsein und Verantwortung auf - und unterhält mit einem zwar leider allzu düsteren, aber hochästhetischen Theaterkunststück, in dem neben den großartig ausdrucksstarken Tänzern die Musik eine Hauptrolle spielt. Schade nur, ja unverzeihlich eigentlich, dass auf dem dürftigen Programmzettel lediglich die Komponisten in alphabetischer Reihenfolge genannt werden, nicht aber die einzelnen Kompositionen in der chronologischen Abfolge und nicht einmal die für die Wahl zuständigen, so verdienstvollen Künstler.

Immerhin ist der Jugendkonzertchor Dortmund mit seinem Leiter Felix Heitmann unter den Mitwirkenden gelistet. Das Ensemble der Chorakademie Dortmund präsentiert - zwischen eingespielten Kammermusiken von Peteris Vasks exquisit die fünf „Songs of Ariel“ von Frank Martin sowie „Three Elizabethan Songs“ von Ralph Vaughan Williams. Sie machen gleich in der ersten Szene mit einem faszinierenden, noch ganz jungen Engländer bekannt: Benjamin Rimmer hat im Auftrag des Ballett im Revier Shakespeares Epilog vertont und die grandiose Sturm-Musik am Ende des 1. Ballettteils komponiert.

Die jungen Choristen erfüllen aber noch viel weiter reichende Aufgaben mit staunenswerter Präzision: sie klatschen rhythmisch als prassele Regen auf die Insel und geistern als Statisten, Bühnenarbeiter und sonstige ‚dienstbare Geister’ durch den Raum von den Kulissen und der Hinterbühne bis in den hochgefahrenen, leeren Orchestergraben. Die Tänzer können sich derweil völlig auf Soli, Duette und kleine Ensembles konzentrieren.

Der kraushaarige, muskulöse Ledian Soto ist ein ungestümer Hitzkopf - wohl wenig geeignet zu regieren - ein zärtlicher Vater, der das offenbar mutterlose Baby den Bediensteten aus den Armen nimmt, um mit ihm aus diesem Alltag zu fliehen. Federleicht, kokett gibt sich die zauberhafte Rita Duclos als Ariel. Valentin Juteau ist der liebeshungrige, tapsige Caliban. Eine wunderbare Charakterstudie der hochnäsigen, später gedemütigten Antonia liefert Tessa Vanheusden. Francesca Berruto ist die zierliche Miranda - die zwei Liebesszenen mit dem erfrischend natürlichen Ferdinand (Carlos Contreras) machen jeder Romeo und Julia-Balkonszene Konkurrenz. Besonders schön sind kurze Duette, in denen sich ähnliches Denken und Sein zweier Charaktere spiegelt - etwa Prospero und Caliban.

Ausstatter Jürgen Kirner schafft Stimmungsbilder durch unterschiedlich gefärbte Rückprospekte mit Schilf. Ein Felsriff schwebt über der Szene, umgeben von einem Metallreifen - Symbol für Prosperos Lebenskreis?

Eine ‚Weltbühne’ - oder vielmehr neudeutsch ‚A World Stage’ - nennt sich das Ruhrgebietsfestival heute. Es feiert in dieser Saison 70. Geburtstag. Dass das Mittelmeer nicht nur Sonne und Strände, Muscheln und Wein, dolce vita und far niente für Rucksacktouristen und faule Urlauber bedeutet, die Schiffe nicht nur feriengestimmte Menschen transportieren - das alles steckt auch in dem Fragezeichen hinter „Mare nostrum“ auf dem Festspielheft. Bridget Breiner hat nicht die aktuelle Katastrophe kommentiert, sondern Bilder von Menschen gezeichnet.
 

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