„Vergnügen und Verlust“
Fulminanter Start der Ruhrfestspiele Recklinghausen
Ruhrfestspiele Recklinghausen stellen gesellschaftlichen Zusammenhalt in den Fokus
Von Gabriele Klein
„Zweifel und Zusammenhalt“ lautet das Motto der diesjährigen Ruhrfestspiele und dies könnte nicht aktueller gewählt sein: Selten gab es in den letzten Jahrzehnten so viel Zweifel – am eigenen Lebensentwurf, an dem, was man tut, an Fakten, an gesellschaftlichen Institutionen, an politischen Entscheidungsinstanzen, ja, an der Demokratie selbst. Und erschreckend laut nehmen diese Zweifel verschwörungstheoretische Züge an. Diese zerstörerischen Zweifel verschärfen gesellschaftliche Spaltungen und damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Aber Zusammenhalt ist auch gefährdet, wenn er nicht auf Austausch, Kontroverse und Verständigung beruht oder der Begriff politisch instrumentalisiert, lediglich beschworen und inhaltlich entleert wird.
Die von Kürzungen, Streichungen und Reglementierungen bedrohte Kultur kann hier sinnstiftend wirken. Sie stellt Fragen stellt, ermöglicht Reflexionen und Selbstvergewisserung und zugleich zeigen, dass Zweifel eine zentrale Funktion in demokratischen Gesellschaften zukommt. Genau dieser Aufgabe haben sich die Ruhrfestspiele Recklinghausen gestellt, die 1947 gegründet und sich, vom Deutschen Gewerkschaftsbund mit unterstützt, als eines der größten Tanz- und Theaterfestivals Europas etabliert haben.
Ambitioniertes Programm gegen Zukunftsängste
Das Programm ist auch in diesem Jahr ambitioniert und verspricht eine Balance aus hochwertiger Kunst und reflektiertem politischen Diskurs: hochkarätige Theater- und Tanzaufführungen, Literatur und Musik, neuer Zirkus, der so konzentriert selten zu sehen ist, Gesprächsforen und Workshops veranschaulichen, dass Zweifel nicht meint, zukunftsängstlich und destruktiv zu sein und demokratische Vielfalt zu untergraben, sondern eine konstruktive und für den gesellschaftlichen Zusammenhalt konstitutive Seite hat.
Diesen Anspruch demonstrierte bereits das Eröffnungswochenende: die vor ausverkauften Festspielhaus auf dem „Grünen Hügel“ gehaltene virtuos konzipierte Eröffnungsrede der französischen Schriftstellerin Cécile Wajsbrot, Tochter polnischer Juden, die nach Frankreich geflüchtet waren, das Eröffnungsstück „Warten auf Godot“ von Luc Perceval, ein Gastspiel des Berliner Ensembles, das den Verlust an Initiative und Verantwortungsverweigerung, Gewalt im öffentlichen Raum, die Ausbeutung und den Tod von Millionen Menschen thematisiert oder die erstmalig in Deutschland so umfangreich gezeigten Arbeiten der US-amerikanischen feministischen Künstlerin Judy Chicago, die in den gesellschaftlichen Aufbruchsjahren der 1960er Jahre ihre Karriere begann und deren Leben und Wirken heute als ein Modell für den Zusammenhalt von Frauen und gegen aktuelle Angriffe mancher politisch Verantwortlicher auf eine gendergerechte, diverse und inklusive Gesellschaft ist.
Der Aufklärung verschrieben
Die Ruhrfestspiele präsentieren Zweifel von seiner produktiven Seite: als Grundlage einer kritischen Aufklärung, als Motor von Kunst und Wissenschaft, als Motivator für Fragen, als Warner vor Dogmen und ‚alternativen Fakten‘, als Antrieb für neue Erkenntnisse und gesellschaftliche Transformationen – und damit als Garant für den Zusammenhalt. Das Programm verdeutlicht auch, dass Zusammenhalt keine normative Kategorie ist, um seiner selbst willen geschieht, sondern performativ ist, gelebt werden muss und dafür den produktiven Zweifel, Risiko und Mut braucht. Dies ist beispielsweise auch zu sehen bei der Deutschlandpremiere des Stück „Theatre of Dreams“ des israelischen Choreografen Hofesh Shechter, koproduziert von den Ruhrfestspielen, das die Suche nach Gemeinschaft zum Thema hat. „Ein Tanzstück ist wie ein Traum“, sagt Shechter. „Es lässt uns fühlen und die Welt sehen, wie sie im Inneren der Menschen aussieht.“
Noch keine Beiträge
basierend auf den Schlüsselwörtern
Bitte anmelden um Kommentare zu schreiben