„Back Pack“ von Francesca Foscarini

„Back Pack“ von Francesca Foscarini

Von Bewegungsstudien bis zum Sittenbild

Die 10. Tanzbiennale in Venedig bietet zarte Gesten und große Würfe

Virgilio Sieni verschränkt auch im vierten Jahr seiner künstlerischen Leitung der Tanzbiennale Venedig hochkarätige Gastspiele mit site-specific Formaten.

Venedig, 27/06/2016

In „Progetto Archeology“ der 10. Tanzbiennale Venedig vom 17. bis 26. Juni lässt das vierköpfige Team aus Architektur, Soziologie und Tanz rund um die Choreografin Elisabetta Consonni das Publikum die Stadt hautnah erfahren. Gemeinsam mit 13 WorkshopteilnehmerInnen entwickelte Consonni einen halbstündigen Parcours fernab von Tourismusattraktionen. Die Interaktion zwischen dem menschlichen Körper und dem städtebaulichen Raum vertieft – so die These des Projekts – die Zugehörigkeit zum sozialen Umfeld.

Virgilio Sieni verschränkt auch im vierten Jahr seiner künstlerischen Leitung der Tanzbiennale Venedig hochkarätige Gastspiele mit site-specific Formaten. Unbeirrt hält er damit an der Vision einer ‚Polis’ fest, welche seit der Antike ein geglücktes, urbanes Zusammenleben meint. 25 Künstlerinnen und Künstler präsentierten in 10 Tagen 19 Performances, davon 10 Weltpremieren und 8 Italienpremieren sowie 13 Kreationen aus der hauseigenen Weiterbildungsstätte „Biennale College“. Eingeladen waren internationale Größen wie Maguy Marin, die dieses Jahr für ihr Lebenswerk mit dem Goldenen Löwen von Venedig ausgezeichnet wurde, sowie Trisha Brown, Nacera Belaza, Emanuel Gat, Anne Teresa de Keersmaeker, Daniel Linehan, Isabelle Schad und Laurent Goldring. Es kam zu insgesamt 65 Aufführungen an 5 Plätzen im Freien sowie 15 Räumlichkeiten in Theatern, Akademien und Palästen.

Eine breite Wahrnehmung, die Laien herausfordert, zählt für professionelle Tänzerinnen und Tänzer zur täglichen Routine. Kontinuierliches Training benötigt jedoch adäquate Ausbildungsstätten. Sieni, der eine staatliche, zeitgenössische Tanzausbildung in Italien nach wie vor schmerzlich vermisst, versucht diese Lücke mit der Weiterbildungsschiene „Biennale College“ zumindest temporär zu kompensieren. So lehren dort auch fast alle Choreografinnen und Choreografen, die sich mit eigenen Gastspielen auf der Biennale präsentieren. Das Publikum lernt dadurch einerseits die Methodik der Gäste im Rahmen der Showings am Ende des Colleges kennen. Andererseits bekommt es über die Präsentation der fertigen Gastspiele Einblicke in die ästhetische Gestaltung.

Yasmine Hugonnet zeigte beispielsweise in dem Gastspiel „La Ronde – Quartuor“ das Skulpturale des menschlichen Körpers. Drei Frauen und ein Mann drehen sich in Zeitlupe im Kreis, als wären sie die Figuren einer Spieluhr. Durch winzige Veränderungen in Haltung und Gestik vollziehen die Vier eine Zeitreise von antiken Vasen über mittelalterliche Rosetten, Rokokodekor, Industriezahnrädern bis zu kalligrafischem Webdesign. Im Showing „Unfolding Figures“ des Biennale College lässt Hugonnet die Studierenden folgerichtig die pure Technik minimaler Körperverschiebung als inszenatorisches Verfahren präsentieren.

Einen ambivalenten Eindruck hinterlässt die Häufung akribischer Bewegungsstudien der diesjährigen Tanzbiennale. Ob diese Tatsache als biedermeierlicher Rückzug zu deuten ist oder als Hoffnung, die Antworten auf gesellschaftliche Umwälzungen gleichsam unter dem Mikroskop zu finden, kann nicht beantwortet werden. Obwohl spannende Tanzetüden entstehen, fehlt hier der Blick aufs Ganze. In „Ra-me“ von Lara Russo erforschen drei Männer bedächtig drei lange Kupferröhren. Gabriel Schenker vibriert in „Pulse Constellations“ muskelgenau zur Musik von John McGuiere. Mariana Giovannini perspektiviert ihre Choreografie in „Duetto nero“ zwischen Mathematik und Goldenem Schnitt. Lediglich Francesca Foscarini problematisiert in „Back Pack“ über den hochartifiziellen Umgang mit ihrem Rucksack und dessen Inhalt gegenwärtige Phänomene wie Nomadentum, kultureller Codierung und Sicherheitszonen.

Als ein Höhepunkt der internationalen Gastspiele entpuppte sich „dbddbb“ der Kompanie „Hiatus“. Der 34-jährige, gebürtige US-amerikanische Choreograf Daniel Linehan mit belgischer Wahlheimat entfesselt einen einstündigen, anarchischen Rap, begleitet von hochkomplexen, dadaistischen Silbenkaskaden, die das Ensemble einzeln, dialogisch, im Kanon oder als Chor ruft. Unter dem an Orgelpfeifen erinnernden Gehänge aus silbernen Stangen, an denen teilweise Sportschuhe wie Prothesen baumeln, und in queeren Kostümen, denen Ärmel oder Hosenbeine fehlen, pendelt das karnevaleske Treiben zwischen Ritual, Militärparade, Party und totaler Erschöpfung. Ein stupendes Sittenbild unserer Existenz.

Der Aufenthalt der Autorin wurde von der Tanzbiennale getragen.
Eine kürzere Fassung des Artikel ist auch zu finden in der Kleinen Zeitung.

 

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