„Ein inneres Röntgenbild der Gesellschaft“

Interview mit Sasha Waltz anlässlich der Uraufführung „gefaltet“ zur Eröffnung der Salzburger Mozartwoche am 27. Januar.

Salzburg, 21/01/2012

Redaktion: Haben Sie Angst vor Mozart? Was bedeutet es für Sie als Choreografin den Auftakt der Internationalen Mozartwoche in Salzburg (ab 27. Januar) mit einem tänzerischen Beitrag zu gestalten? Mozart hat an sich nur ein einziges veritables Tanz-Stück „Les petits riens“ geschrieben.

Sasha Waltz: Es ist eine Bereicherung für mich, mich genauer mit Mozart zu beschäftigen, mit seiner Musik und seiner Biographie, aber auch mit seinen Zeitgenossen. Ich arbeite mit den Stücken, die mich musikalisch und kompositorisch interessieren. Nein, ich habe keine Angst. Die Musik Mozarts hat einen sehr tänzerischen Duktus und Atem. Es eignen sich sehr viele Stücke für Choreografie.

Redaktion: „gefaltet. Ein choreografisches Konzert“. Was ist damit gemeint? Und welche Aufgabe hat Mark André übernommen?

Sasha Waltz: Es ist eine Zusammenarbeit mit Mark André und ebenso wie Mozart steht auch seine Musik im Dialog mit der Choreografie. Marks Universum ist so anders, so fremd gegenüber Mozart und eröffnet ganz neue Klangwelten, die in ein sehr spannendes Verhältnis zu Mozart treten. „Choreografisches Konzert" bedeutet, dass die Musiker auch als Darsteller für Momente auf der Bühne erscheinen und nicht nur die Musik interpretieren. Es wird auch "Klangruinen" geben und Fragmente, die die Musiker mit Mark und mir entwickeln. So entsteht ein kreativer Prozess, nicht nur pur ein interpretatorischer.

Redaktion: Die Künstlerin Sasha Waltz – nach der verstorbenen Pina Bausch wohl das Aushängeschild in Sachen zeitgenössischer Tanz in Deutschland. Sehen Sie sich in gewisser Weise als Nachfolgerin?

Sasha Waltz: Darüber mache ich mir eigentlich keine Gedanken. Ich bin zu sehr mit den Stücken selbst beschäftigt.

Redaktion: Wie wichtig ist Ihnen das Reagieren auf die Zeit- und Gesellschaftsprobleme bzw. Zustände? Wie wichtig ist Ihnen Zeitgenossenschaft im besten Sinne?

Sasha Waltz: Ich lasse mich sehr von den Ereignissen der Gegenwart bewegen. Immer sind wir, die wir im Jetzt leben und im Dialog mit gestorbenen Komponisten arbeiten, automatisch an einem Wiederbeleben und Erneuern der Musik beteiligt. Wie können wir Musik neu hören, neu wahrnehmen, aber auch ihren absoluten Geist bewahren? Natürlich schreibt ein lebender Komponist wie Mark Andre jetzt nicht mehr die gleiche Musik wie Mozart, er findet andere Klänge, Impulse, dennoch ist Musikgeschichte in uns präsent.

Redaktion: Ist das eine Zeitgenossenschaft im Sinne von Feinfühligkeit für ein Ablesen der aktuellen Zustände? Braucht man ein Tanzstück zur aktuellen EU-Krise und zur Schuldenbremse?

Sasha Waltz: Zeitgenossenschaft und Feinfühligkeit sind schöne Begriffe, aber die Strömungen der Zeit gehen über so konkrete Ereignisse wie die Bankenkrise etc. hinaus. Es ist eher ein inneres Röntgenbild der Gesellschaft, das man als Künstler schafft. Und oft gelingt es nicht. Aber es sind diese unterschwelligen Strömungen oder Verbindungen, die mich interessieren und auch viel abstraktere Umsetzungen verlangen. Aber man kann auch damit arbeiten. So hat beispielsweise Helmut Schmidt unlängst sehr eindrücklich Europa thematisiert, und dass dessen Kräfteverhältnis, geprägt von starken Mächten im Zentrum, eine Schwächung der Peripherie zur Folge hat und umgekehrt eine schwache Mitte wiederum eine dominante Peripherie erzeugt. Dieses Kräfteverhältnis zwischen Innen und Außen, zwischen Zentrum und Peripherie lässt sich auch abstrakt lesen und dieser Gedanke beschäftigt mich gerade sehr.

Redaktion: Oder muss man Angst haben, Sasha Waltz, dass die Krise auch die staatlichen und städtischen Kultur-Ausgaben beeinflusst? Sie haben es geschafft, ein Ensemble leisten zu können und in Berlin eine Spielstätte erobern zu können, das Radialsystem.

Sasha Waltz: Es ist zum Teil beängstigend, was sich in der europäischen Kulturlandschaft gerade abspielt. Ein kulturpolitisch so richtungsweisendes Land wie Holland hat durch die neue rechte Regierung derart gravierende Kürzungen erfahren, dass die gesamte Basis der Kultur bedroht ist. Künstler und Institutionen werden weggekürzt oder abgewickelt. Wir müssen unsere kostbaren Einrichtungen, die über viele Jahrhunderte gewachsen sind, stärken und sichern, aber auch unbedingt dem Humus, dem künstlerischen Experiment, Freiräume lassen. Und auch dies braucht finanzielle Förderung.

Das Radialsystem, wo wir Mieter sind, wird bislang gar nicht strukturell öffentlich gefördert und versucht, über Vermietungen Kunst zu finanzieren. Das gelingt zum Teil, aber ohne wirkliche Subvention des Staates oder des Landes Berlin wird es sicher nicht mehr lange weitergehen können. Das Haus hat gezeigt, dass es ein wichtiger Ort für Tanz, experimentelles Musiktheater, Neue und Alte Musik ist, ein Ort der Chöre und der politischen Kongresse. Das Radialsystem ist aus der kulturellen Landschaft Berlins nicht mehr wegzudenken und für viele ist es zum Modellprojekt geworden, das auch etablierte Häuser inspiriert, und inzwischen schon Nachahmer weltweit gefunden hat. Aber es steht mit seinem Ideenreichtum mit den subventionierten Häusern im Wettbewerb und hangelt stets am finanziellen Abgrund.

Auch die Situation der Kompanie ist ja prekär, obwohl wir über eine Mischförderung aus institutionellen Mitteln vom Land Berlin und Bundesmitteln über die Regelförderung des Hauptstadtkulturfonds immerhin die Hälfte unserer Ausgaben bestreiten können. Dieses Geld des Hauptstadtkulturfonds z. B. sollte aber eigentlich Projekten zukommen, weniger einer regelmäßigen Förderung. Viele Jahre lang waren zudem unsere internationalen Einnahmen unser Spielbein, nun wird es möglicherweise immer mehr zur Achillesferse, weil wir in hoher Abhängigkeit von Partnern auf der ganzen Welt mit deren eigenen finanziellen Problemen sind.

Redaktion: Kann auch von Künstler/Innen ein „pro-soziales“ Verhalten eingefordert werden und wie könnte so was ausschauen?

Sasha Waltz: Es gibt viele Projekte, bei denen man sich engagieren kann. „Tanz an den Schulen“, in Berlin von der Choreografin Livia Patrizi gegründet, ist so ein richtungsweisendes Projekt, für das ich daher auch die Schirmherrschaft übernommen habe. In unserer Kompanie bieten wir Kindertanzkurse für unterschiedliche Altersgruppen an. Im Mai diesen Jahres werden meine Tänzer in Schulen ausschwärmen, um ein großes Education-Projekt mit den Berliner Philharmonikern zum Thema „Carmen“ zu entwickeln. Aber auch Orte für freies Theater und Tanz wie die Sophiensaele oder das Radialsystem zu gründen und sie für eine Gemeinschaft zu entwickeln, sind letztlich Projekte, die bisher nur unzureichend gelöste kulturelle Aufgaben zu lösen versuchen. In diesem Sinn ist mein Mann Jochen Sandig für mich auch ein „Social Entrepreneur“.

Redaktion: Welche Zielsetzung hat das von Ihnen gegründete Ensemble mit Kindern und Jugendlichen? 

Sasha Waltz: Die Idee ist, Kinder und Jugendliche in Körperbewusstsein zu schulen und den Sinn für Raum, für Bewegung und Aktion in der Gruppe zu entwickeln. Beim Tanzen lernen Kinder eine andere Bewusstheit im Umgang mit dem eigenen, wie mit fremden Körpern. Auch das Formbewusstsein und ein vertrauter Umgang mit Musik werden gefördert. Der Weg ins Theater und zur Musik eröffnet eine Neugier der Kunst gegenüber; Die Entfaltung der freien Kreativität und der individuellen Inspiration entwickeln sich. Das Gefühl von Relevanz und Einzigartigkeit individuellen Ausdrucks von Bewegung wird ermöglicht.

Redaktion: Sie sind als eine der ersten Choreografinnen, noch vor Anne Teresa de Keersmaeker, vom Ballett der Pariser Oper eingeladen worden, „Romeo und Julia“ zu choreografieren. Was bedeutete ihnen diese Möglichkeit? Wie war die Arbeit vor Ort?

Sasha Waltz: Es war für mich eine der wichtigsten und schönsten, aber auch der schwierigsten Aufgaben meiner künstlerischen Biografie. „Roméo et Juliette“ von Hector Berlioz ist eine Dramatische Sinfonie. Es gab also neben den 25 Tänzern Solisten, drei Gesangssolisten und einen hundertköpfigen Chor, den ich auch choreografisch einbezogen habe. Das waren schon sehr viele Menschen, die Aufmerksamkeit brauchten. Mit dem Ballett zu arbeiten und den Tänzern war großartig. Die Pas de deux habe ich für Aurelie Dupont, Hervé Moreau und Wilfried Romoli geschrieben und es war inspirierend, in den Studios des Palais Garnier der Opéra de Paris etwas zu kreieren, wo der Geist von vielen Choreografen schwirrt. Es war ein kreativer Rausch. Dieses Jahr wird das Stück wieder aufgenommen in Paris und ab Dezember 2012 dann auch die nächsten Jahre an der Mailänder Scala gezeigt. Ich hoffe sehr, dass es auch irgendwann nach Berlin kommt...

Redaktion: Sie haben damit geschafft, was immer noch relativ wenigen geglückt ist, mit einem Bein in der freien Szene, mit dem anderen in großen Häusern, auch in der Brüsseler Monnaie-Oper, Erfolg zu haben. Trisha Brown, Emio Greco, Sidi Larbi Cherkaoui, so viele sind es nicht, denen dieser Spagat geglückt ist.

Sasha Waltz: Ich würde mir wünschen, dass neue dynamischere Modelle für die Häuser entwickelt werden, und die Beweglichkeit der freien Ensembles in die Arbeit der großen Strukturen besser und nachhaltiger integriert wird.

Redaktion: Thematisch sind Sie ja auch mutig auf die Oper losgegangen – „Dido & Aeneas“, das u.a. im Festspielhaus St. Pölten zu sehen war, „Matsukaze“, ihre choreografische Oper von Toshio Hosukawa hatte letztes Jahr in Brüssel Premiere. Was interessiert Sie am Opern-Genre?

Sasha Waltz: Es ist für mich eine besondere Situation, alle Elemente auf der Bühne in Einklang zu bringen, Tanz, Gesang, Bühne, Licht. Dies fordert mich in der Oper besonders heraus. Und ich empfinde es als bereichernd, mit Komponisten, Musikern und Sängern und Tänzern an dieser Einheit zu arbeiten. Auch in "gefaltet" versuchen wir, eine Art Einheit zwischen Instrumentalisten und Tänzern herzustellen.

Redaktion: Ästhetisch und inhaltlich hat ja um die Jahrtausendwende der sogenannte Konzepttanz wegen neuer Inhaltlichkeit einiges zunächst durcheinander gewirbelt. Plötzlich ging scheinbar die Form verloren. Wie wichtig ist Form und was würden Sie jungen Choreografen/Innen raten?

Sasha Waltz: Ich glaube, als Choreograf/In kann es sehr hilfreich sein, seinen eigenen Körper zu kennen, zu spüren, ihn zu kontrollieren und zu beherrschen. Er ist unser Instrument. Es ist richtig, dass man viele andere Ausdrucksformen wählen kann, aber es ist auch sehr bereichernd nur mit dem Körper als Instrument zu arbeiten. Ich finde unterschiedlichstes Training interessant. Mich interessieren auch alle künstlerischen Formen. Aber mein Zeitgefühl, meine Dramaturgie, mein Raumgefühl ist geprägt davon, dass ich Tänzerin war und bin und auch als Tänzerin denke.

Redaktion: Der zeitgenössische Tanz hat in all seinen Facetten während der letzten Jahrzehnte quantitativ einen großen Aufschwung genommen, Festivals und Ensembles werden mehr und mehr. Hat der Tanz aber letztlich genügend Lobby und Standing, um von der Politik und letztlich auch von der Wirtschaft tatsächlich ernst genommen zu werden? Und was könnte man von Künstler/Innen-Seite noch dazu tun?

Sasha Waltz: Der Tanz ist im Reigen der Künste nach wie vor ein Außenseiter. Und es gibt keine ausreichende Lobby für Tanz. Schnell sind die Ballettensembles weggespart und niemand ruft laut. Ein Sprechtheater ist nicht so einfach zu schließen im Vergleich dazu. Der zeitgenössische Tanz schafft es bislang eigentlich nicht wirklich in die Institutionalisierung.

Redaktion: Welches künstlerische Ziel streben Sie in den nächsten Jahren an?

Sasha Waltz: Mehr Zeit zu haben für alles, noch enger und mit den Musikern, Komponisten und Ensembles zu arbeiten. Interessante Künstler zu treffen und Zusammenarbeiten zu entwickeln. Den Reichtum des Musik-Repertoires der Vergangenheit und der Zukunft zu erforschen. Und immer wieder: das künstlerische Experiment zu wagen.

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