Der Kongress tanzt

Die Tagung „Tanz (und) Theorie“ in den Uferstudios

Berlin, 04/05/2011

Von Kati Burchart und Nadja Kadel 

Vom 28. bis 30. April waren Tanz und Theorie Gegenstand einer internationalen Konferenz, zu der Gabriele Brandstetter (Freie Universität Berlin, Zentrum für Bewegungsforschung) und Gabriele Klein (Universität Hamburg) in die Uferstudios nach Berlin eingeladen hatten. Das Tagungsprogramm spricht von einer schwierigen, gar gefährlichen Beziehung zwischen Tanz und Theorie. Flüchtig und nur im Einzelfall trete die tänzerische Bewegung mit der theoretischen Denkbewegung in ein Wechselspiel, das für beide riskant ist, weil stets beider Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt und neu bestimmt werden. Diesem Verhältnis in all seinen Spuren, Ausprägungen und Varianten nachzugehen – historischen, gegenwärtigen und zukünftigen –, war Ziel der Veranstaltung. Geladen waren Choreografen, Tänzer und Kulturwissenschaftler, um in einem dreitägigen Austausch zukunftsweisende, sowohl für die Theorie als auch für die Praxis des Tanzes fruchtbare Denkmodelle zu skizzieren.

Am Eröffnungsabend hieß Gabriele Brandstetter die etwa 250 Tagungsgäste willkommen und erläuterte, dass es vom wissenschaftlichen Standpunkt aus wichtig geworden sei, etablierte theoretische und diskursive Denkansätze kritisch zu hinterfragen und auf ihren westlich-kolonialistischen Subtext zu überprüfen – und dies auch im Hinblick auf den Tanz. Im Sinne eines möglichst offenen Austauschs plädierte sie dafür, neben den gewohnten Formen des Vortrags, des Zuhörens und der Diskussion, auch andere Präsentationsmöglichkeiten zu erproben.

Diese Anregung wurde von Susan Leigh Foster eindrucksvoll aufgegriffen: Sie sprach nicht nur, sondern performte auf der Bühne. Während sie einen historischen Abriss verschiedener Theorien über Körper- und Tanzbewegungen gab, band sie sich mit einer weißen Kordel an das Stehpult, zog die Kordel weiter durch den Ärmel ihres schwarzen Jacketts, umwickelte das Bein des Stehpults, lief quer über die Bühne, ergriff einen Stuhl, umschlang diesen mit der Kordel und ging zurück. So entstand eine physisch sichtbare Linie im Raum, mit Windungen, Wendungen und Verknotungen, die an die von der Vortragenden vorgestellten Modelle anknüpften. Wie eine Zauberin brachte sie unerwartet Gegenstände zum Vorschein: Schilder mit den Begriffen „Aesthesis“ und „Praxis“, Füllfederhalter und Taschenlampe, die, kaum erschienen, dem Sichtfeld des Betrachters auch schon wieder entschwanden.

Im ständigen Bewegungsfluss – gehend, balancierend, auf dem Boden liegend und sich wälzend, hüpfend oder drehend – gelang Foster eine Sprech-Performance, die wie eine tour de force veranschaulichte, wie Theorien in Bewegung geraten und mit jedem neuen Frageinteresse weiter zu bewegen, also zu verändern sind. Sie arbeitete selbst einen möglichen Fragenkatalog aus und schloss sich Brandstetters Vorschlag an, das Begriffspaar Tanz/Theorie – je nach Standpunkt und Interesse, Gegenstand und Zusammenhang – mit verschiedenen Präpositionen zu verbinden: neben „und“ auch „als“, „aber“, „in“, „aus“ oder „durch“.

Anschließend bot der spanische Choreograf und Tänzer Cesc Gelabert ähnlich wie Foster eine Vortragsperformance, die Theorie und Methode unmittelbar aufeinander bezog. Er tanzte Ausschnitte des Solos „Schwarz Weiß Zeigen“ von Gerhard Bohner (1983), von dem gleichzeitig ein Originalfilm übergroß auf eine hinter dem Tänzer angebrachte Leinwand projiziert wurde. Indem Gelabert Bohners Bewegungen auf der Bühne nachvollzog und kommentierte, veranschaulichte er, dass Tanz mit „motion in the mind“ beginnt und eben nicht mit Nachahmung sichtbarer Bewegung. Die für den Zuschauer nachvollziehbaren Differenzen zum Original waren beabsichtigt. Er las Kommentare seiner Studenten, um zu zeigen, welche Bedeutung er dem Dialog über Tanz, das Gesehene und dabei Erlebte beimisst, und rundete seine Tanzbeispiele durch im Film und live dargebotene eigene Soli ab. Eine kurze, gemeinsam mit dem Publikum durchgeführte Bewegungsstudie beendete den Eröffnungsabend. Im anschließenden Gespräch bezeichnete Johannes Odenthal Gelaberts Performance als Protobeispiel dafür, wie Tanz in Theorie überführt werden kann.

An den folgenden beiden Tagen wurden in sechs Panels die Themen „Künstlerische Forschung“ (kuratiert von Sibylle Peters und Kerstin Evert), „Ästhetik“ (kuratiert von Gerald Siegmund), Politik“ (kuratiert von André Lepecki), „Bildlichkeit/Visualität/Medialität“ (kuratiert von Bettina Brandl-Risi), „Archiv“ (kuratiert von Beatrice von Bismarck) und „Next Generation“ (kuratiert von Susanne Foellmer) diskutiert. Unterbrochen von zwei Vorträgen im Plenum und einer Filmshow von Jochen Roller am Abend fanden immer zwei Panels parallel statt, so dass die Zuhörer je nach Interessenschwerpunkt auswählen mussten.

Wir greifen zwei dieser Gesprächsrunden beispielhaft heraus: Das Panel „Bildlichkeit/Visualität/Medialität“ ging der Frage nach, was geschieht, wenn Bewegung zum Bild wird oder Bilder in Bewegung (um)gesetzt werden, und wie dies unsere Wahrnehmung von Bildern und Bewegung beeinflusst. Nachdem die Kuratorin Bettina Brandl-Risi einige Forschungsfelder abgesteckt hatte, stellten vier internationale Experten ihre Überlegungen vor: Maaike Bleeker (Universität Utrecht) berichtete aus laufenden Projekten der Theatre and Performances Studies. Timo Skrandies (Universitäten Düsseldorf und Trondheim) skizzierte historische Beispiele für den entscheidenden Augenblick eines Fotos, indem er sich begrifflich auf Walter Benjamins „dialektisches Bild“ bezog. Chris Kondek (Video-Artist) steuerte als erfahrener Künstler Anschauungsbeispiele aus Theater und Oper bei, Michael Diers (Hochschule für Bildende Künste Hamburg und Humboldt-Universität Berlin) gab schließlich einen kunsthistorischen Vortrag über Stillstand und Bewegung in den Künsten. Dass sich die Referenten am Ende doch nicht wirklich „trafen“ und das weitere Gespräch trotz umsichtiger Vorbereitung bald an seine (begrifflichen) Grenzen stieß, war der kaum zu bewältigenden Vielfalt an Perspektiven geschuldet.

Schon allein beim Verständnis von „Bild“ gingen die Anwendungen weit auseinander – von der Materialität eines Gemäldes, Fotos, Films oder einer Live-Aufführung, deren Betrachtung, Interpretation oder erneuten medialen Aufzeichnung bis hin zu emotionalen oder kognitiven Vorstellungen. Schließlich wurde die grundsätzliche Frage aufgeworfen, warum wir überhaupt bildlich oder in Bildern denken. Dass all das nicht in einer zweieinhalbstündigen Sitzung zu beantworten ist, darin waren sich alle Teilnehmer einig. Dennoch gelang es dem Panel, Neugier für die jeweils andere, fremde Betrachtungsweise zu wecken und die Überzeugung zu stärken, dass interdisziplinärer Austausch nicht bloß ein Gewinn, sondern wegweisend für eine adäquate Annäherung an die Ausgangsfragen ist.

In ihrem Plenarvortrag „Tanztheorie und die Praxis der Kritik“ untersuchte Gabriele Klein die Vorstellung, dass Tanz eine Praxis der Kritik sei. In Auseinandersetzung mit Studien zu zeitgenössischen choreografischen Arbeitsweisen drehte sie die Perspektive um und stellte die Frage, wie Tanztheorie als eine kritische Theorie der Praxis aussehen und wie, mit Hilfe von Pierre Bourdieu und Judith Butler, das politische Moment des Tanzes in seinem gesellschaftlichen Kontext analysiert werden könne.

Gabriele Brandstetter stellte in „Dis/Balancen. Tanz und Theorie“ das schwer auszutarierende Verhältnis zwischen Theorie und Praxis in den Mittelpunkt. Wie sie in einem bis auf Aristoteles zurückreichenden Überblick zeigte, unterlag dieses Verhältnis stets einem historischen Wandel: Ein Ungleichgewicht, ein Kontrollverlust war immer schon mit inbegriffen. Brandstetter exemplifizierte diese Disbalancen vor allem an zwei literarisch-philosophischen Texten: Während es in Kleists Dialog „Über das Marionettentheater“ um eine Spannung zwischen Leichtigkeit und Schwere geht, erkennt Paul Valéry in seiner „Philosophie de la Danse“ eine zeitliche Disbalance zwischen Tanzen und Denken, die bei ihm versetzt in Erscheinung treten. Wenn im 18. Jahrhundert der Tanz selbst als Theorie verstanden wird, so verschwimmt in der Tanzmoderne Anfang des 20. Jahrhunderts, in einer Zeit der krisenhaften Umbrüche, die Grenze zwischen Theorie und Praxis. Heute wird angesichts einer immer rascheren Folge sich ablösender Tanzkonzepte und einer zunehmenden (Selbst-)Reflexion in der Tanzpraxis die Frage, wo Zäsuren zu setzen sind, immer virulenter. Doch liegt darin auch die Chance, Differenzen ernst zu nehmen und Verschiebungen mit größerer Genauigkeit zu beschreiben.

Dieser letzte Plenarvortrag, der manche der zuvor diskutierten Ansätze aufgriff und zu verknüpfen suchte, wäre ein optimaler Abschluss gewesen. Es folgte jedoch ein eher schwaches Panel zum Thema „Next Generation“. Zwar hätte der dort zu Beginn gezeigte Ausschnitt aus dem Film „Raumpatrouille Orion“, in dem die Schauspieler einen futuristischen Tanz zum Besten geben, ein gelungener, ironischer Einstieg sein können. Doch die Panellisten begriffen sich unisono nicht als Teil der „next „, sondern der „now generation“. Vom Zögern, Zaudern, Innehalten, von Positionierung und Repositionierung war die Rede, aber außer Yvonne Hardt, die ein Gedankenexperiment über eine mögliche zukünftige Choreografie anstellte, wagte niemand einen Ausblick auf die Zukunft. Interessiert sich denn niemand dafür, wie aus choreografischer Sicht eine Weiterentwicklung der Bewegungssprachen, wie zukünftige Performance-Konzepte, wie die Forschungsschwerpunkte für eine Next Generation aussehen könnten? Man blieb auf dem sicheren Terrain der altbekannten Referenzpersonen und allgemeinen Theorien. Eine gewisse Ratlosigkeit gegenüber der Zukunft machte sich breit, was vielleicht auch mit dem Grundproblem zusammenhängt, dass die Tanzwissenschaft sich vorzugsweise mit einem relativ kleinen, mittlerweile quasi kanonisierten Kreis von Choreografen auseinandersetzt: entweder mit solchen, die sich explizit auf Theoretiker wie Walter Benjamin, Jacques Lacan, Michel Foucault oder Judith Butler beziehen, also Jérôme Bel, William Forsythe, Xavier Le Roy oder Eszter Salomon, oder mit einigen historischen Choreografen wie Mary Wigman oder Yvonne Rainer, neuerdings auch mit Pina Bausch.

Es wäre zu wünschen, dass die Theorie sich stärker für die Tatsache öffnet, dass die für die Weiterentwicklung des Tanzes maßgeblichen Choreografen meist aus der Institution Theater hervorgehen; das galt für Forsythe und Bausch, das gilt auch noch heute und wird auch in Zukunft so sein. Es besteht daher kein Anlass, den in Staats- oder Stadttheatern gepflegten Tanz als irrelevant anzusehen. Wenn während einer Diskussion der Satz fiel, „in das richtige Theater geht man, weil man weiß, was einen dort erwartet – zum zeitgenössischen Tanz aber, weil man nicht weiß, was einen erwartet“, so ist diese Grenzziehung mindestens subkomplex. Wenigstens dies wurde in dem Panel „Next Generation“ deutlich.

Fazit: Eine vor allem durch die Keynotes hochkarätige Veranstaltung, die viele neue Perspektiven auf die zugleich problematische wie unhintergehbare Verkettung von Tanzpraxis und -theorie eröffnet hat. Dass nicht alle Gesprächskreise ihren hohen Ansprüchen gerecht werden konnten, ist bei einer solchen Vielfalt der theoretischen Ansätze, der praktischen Expertise und der Provenienzen der Vortragenden kaum anders zu erwarten. Zu der offenen und entspannten Diskussionsatmosphäre hat auch die originelle Form mancher Vorträge beigetragen. Wer gekommen war, um über „Tanz (und) Theorie“ zu rätseln, hatte reichlich Gelegenheit, sich auch an „Theorie als Tanz“ zu erfreuen.
 

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