Wissen in Bewegung - Perspektiven der künstlerischen und wissenschaftlichen Forschung im Tanz

Erprobung neuer Denkansätze durch, für und im Tanz

Berlin, 04/12/2007

Anderthalb Jahre nach dem wie eine Initialzündung wirkenden Berliner Tanzkongress 2006 liegt nun das dort im Haus der Kulturen der Welt vom 20. – 23. April vor 1700 internationalen Teilnehmern offerierte und diskutierte Wissen in einer inhaltlich anspruchsvollen Publikation der Kulturstiftung des Bundes vor. Die in dieser Textsammlung zu Wort kommenden Choreografen, Tänzer, Wissenschaftler, Pädagogen und Kulturmanager bekräftigen das eigenständige Potenzial des Tanzes als Kunstform und Wissenskultur in unserer globalisierten Wissensgesellschaft. Aus unterschiedlichsten Blickwinkeln der internationalen Tanzpraxis, Wissenschaften und Ausbildungsmodi entstand eine Publikation, deren bewusste Heterogenität auf intellektuelle Bewegung zielt.

Der im transcript Verlag Bielefeld edierte Band 8 der Reihe TanzScripte verortet die Statements in sieben Themenbereichen: Tanz als Wissenskultur, Künstlerische Forschung, Körperwissen und -gedächtnis, Tanzgeschichte und Rekonstruktion, Rezeption und Partizipation, Aus- und Fortbildung im Tanz, Tanzpädagogik und Kulturarbeit.

Das Buch nähert sich von den unterschiedlichsten Seiten der Beantwortung grundlegender Fragestellungen: „Wie wissen wir, was wir über Tanz wissen?“ (Gabriele Klein), „Warum sind wir – in Bezug auf den Tanz und die Überlieferung von Bewegung – Analphabeten?“ (Gabriele Brandstetter), „Was ist ein künstlerisches Laboratorium?“ (Peter Stamer), „Hat nicht gerade der Tanz (und insbesondere die improvisatorischen Tanzpraktiken der letzen 30 Jahre) die komplexe Dynamik von Körper und Geist, Theorie und Praxis thematisiert?“ (Marijke Hoogenboom). „Läuft man mit dem von Natur aus kritischen Unterfangen, den Tanz zum Wissensgebiet zu deklarieren, nicht auch Gefahr, die Terminologie der ´Wissensgesellschaft´ zu übernehmen?“, fragt Jeroen Peters in seinem Essay, der Bezug auf den Salon „Choreografische Arbeitsweisen“ unter Leitung des Performance-Theoretikers André Lepecki und Dramaturgin Myriam Van Imschoot nimmt und mit der Ausgangsfrage „Wie möchten sie heute arbeiten?“ vor allem einen Rede-Fluss weiterer Fragen auslöste.

Alva Noe orientiert sich an Wittgensteins Sprachspielen und Lisa Nelsons Tuning Scores als Methode „um Bausteine der Welt in sich aufzunehmen“. Über Change-Übungen und andere kreative Tools zur Speicherung von Körperwissen gibt Meg Stuart Auskunft und bekennt im Kontext ihrer eigenen Erfahrungen im Umgang mit Bekanntem „Nicht-Wissen scheint eher einen kreativen Funken zu entzünden“. Ausgehend von seiner Lecture Performance „HautSache“ erläutert Dieter Heitkamp, wie zeitgenössischer Tanz und bestimmte Körperbewusstseinsmethoden die künstlerische Recherche tangieren können.

„Was heißt es zu denken?“, fragt Jason Beechey und unterstreicht in seiner Sicht auf die Geschichte und Rekonstruktion des Tanzes. „Zumindest für mich ist Wissen etwas, das erlernt werden muss. Das ist harte Arbeit, denn um zu lernen, muss man denken. (...) Oder ist es möglich, diese kreative Atmosphäre so zu rekonstruieren, dass der Tänzer das Ballett als kreativen Akt der Selbstfindung verstehen kann?“ Ein nachdenkenswerter Beitrag für die Erfassung des Wesentlichen im Spannungsfeld von lebendiger Tradition in Ausbildung und Aufführungspraxis am Theater.

Rebecca Groves, Scott DeLahunta und Norat Zuniga Shaw berichten über William Forsythes Vision einer neuen Art „Tanzliteratur” und die Entwicklung einer interaktiven online-Partitur für das Stück „One Flat Thing, reproduced“. Forscher und Mediendesigner ermöglichen im Tanz ein Kennenlernen und Enthüllen der menschlichen Wahrnehmung in komplexen Umgebungen. Dies ist ein Ergebnis der Bemühungen, die interdisziplinäre und trans-institutionelle Zusammenarbeit zwischen Lehre, Wissenschaft und Kunstpraxis ernsthaft vorzubereiten und auszubauen.

„Was ist ein Dokument im Tanz?“, fragt Inge Baxmann für die Erstellung eines Archives der Bewegung und des Tanzes und reflektiert Erfahrungen, wie sie durch die „Archives Internationales de la Danse“ (AID) in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts in Paris (auch in der Entwicklung neuer Organisations- und Inszenierungsformen dieses Wissens in experimentellen Anordnungen) neue Wissensdiskurse zusammen- und gegeneinander führten.

„Wodurch überliefert sich der Tanz – durch Dokumente oder den heute Tanzenden?“, fragt Claudia Jeschke, vertieft durch ihren Arbeitsbericht zu Waslaw Nijinskys „Faune“ Aspekte der Re-Konstruktion mittels Tanz-Gedächtnisformen sowie interessanten Beobachtungen von Wahrnehmungskompetenzen und benennt Defizite einer historischen und praxisorientierten Tanzforschung.

Mehrfach lesen sollte man nicht nur in diesem Zusammenhang die detaillierten Ausführungen von Norbert Servos zur Repertoirepflege bei Pina Bausch. Er unterstreicht in seinem kenntnisreichen Beitrag, warum sich Rekonstruktion im Tanztheater nicht im alleinigen Wiederherstellen von Bewegungen erschöpft. „Jeder Tanz erzählt, Bewegung für Bewegung, eine eigene kleine Geschichte. Wird diese bei der Übergabe einer Rolle an einen neuen Tänzer nicht mitkommuniziert, fehlt der wesentliche Teil der Botschaft (...) Rekonstruktion bedeutet in diesem Sinn nicht so sehr Konstruktion als vor allen Dingen das Wissen um ein komplettes kreatives System, das in Hunderten von Detailfestlegungen eine Haltung zur Welt zum Ausdruck bringt.“ Felix Ruckerts Plädoyer gilt einem partizipativen Theater, das keine Zuschauer mehr kennt sondern nur Teilhabende. Seine präzis formulierten Beobachtungen einer bewussten „Unterwanderung der Ballettwelt“ als Performer und Choreograf reflektieren eigene künstlerische Erfahrungen mit der „Ästhetik des Performativen“ (Erika Fischer-Lichte) als Strategie auf der Suche nach Erneuerung, Veränderung und Verbindung, die er seit 2001 mit verschiedenen Projekten grenzüberschreitend erprobt. Erika Fischer-Lichte spricht mit Bezug auf diese neuen Aufführungserfahrungen von „Oszillation der Wahrnehmung“ und rät „zwischen dem phänomenalen Leib des Akteur und seinem semiotischen Körper zu unterscheiden“. Mit Fragen und Erfahrungen der zeitgenössischen Beschäftigung einer vielgestaltigen Erprobung neuer Formen der Interaktion zwischen Zuschauerraum und Bühne befassen sich auch der Beitrag von Rudi Laermans und das Gespräch mit Hooman Sharifi. Die Aufgabe der Kunst, so Lehmen im Interview zu Dialogformen der Wissensvermittlung im Kunstkontext, „besteht nicht darin, etwas Schönes, Erwartetes, Bekanntes zu reproduzieren, sondern darin – so meine Auffassung – das Denken durch Wahrnehmung zu fordern, es auf diese Weise weiterzuentwickeln.“ Wie bildet man heutzutage einen jungen Künstler aus? Von dieser Frage bewegt, reflektiert Boris Charmatz Zielsetzungen und Ergebnisse seines Multitasking-Projektes „Bocal“, das von Paris ausgehend als temporäre nomadische Schule in 14 unterschiedlichen Residenzen in mehreren europäischen Städten sei 2003 erprobt wurde. Zu Aspekten der Aus- und Fortbildung äußern sich mit deutlicher Benennung von Defiziten und Neuansätzen Kurt Koegel für ein universell einsetzbares Modell zeitgenössischer Tanztechnikausbildung und Ingo Diehl über interdisziplinäre Austauschprojekte im Rahmen von „Tanzplan Deutschland“.

Dem grundlegenden Feld der Tanzpädagogik und Kulturarbeit – Tanz in Schulen – widmen sich abschließend ausführliche Interviews mit Royston Maldoom, Linda Müller, Livia Patrizi sowie mit Hanna Hegenscheidt und Jo Parkes.

„Wollte man die im und durch Tanz praktizierte Wissensproduktion auf eine Formel bringen, so lautete diese: Tanz schult die sinnliche Wahrnehmung und schärft das Bewusstsein im Umgang mit anderen. Diese Sensibilisierung wiederum ermöglicht es, Erfahrungen innerhalb eines bestimmten soziokulturellen Kontextes zu machen (...) Insofern hat der Tanz mit seiner Orientierungsfunktion auch jenseits der Kunst seine soziale und politische Relevanz“, unterstreichen die Kuratoren-Herausgeber.

Die Publikation ist gerade durch ihre Heterogenität Teil einer seit 2006 zunehmend interdisziplinär geführten Standortbestimmung von Tanz in Kunst und Gesellschaft. Praktiker wie Theoretiker werden auf sehr unterschiedliche Weise zum Quer-Denken, Weiter-Denken und Über-Denken ermutigt. Jeder Beitrag fokussiert für sich wichtige Fragen der Kunstproduktion und Kunstrezeption. Das hier verbal ausgebreitete und zur Debatte stehende „Wissen in Bewegung“ dient der multidisziplinären Forschung, um dem Inhalt und dem Kontext für zeitgenössischen Tanz im 21. Jahrhundert in Praxis und theoretischer Reflexion Gestalt zu geben. Die weiterführenden Literaturangaben und Internetquellen vertiefen die Ernsthaftigkeit der begonnenen Wissenstransfers im und durch Tanz.

 

Sabine Gehm, Pirkko Husemann, Katharina von Wilke (Hg.) Wissen in Bewegung Perspektiven der künstlerischen und wissenschaftlichen Forschung im Tanz 2007 transcript Verlag, Bielefeld ISBN 978-3-89942-808-7 14,80 Euro

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