Bühnenpirat auf großer Fahrt

Schluss mit Ex-Forsythe-Tänzer. Richard Siegal sollte man um seinetwegen kennen

München, 27/01/2011

Richard Siegal ist schmal, trägt Bart und geht mit einem unsichtbaren Lächeln auf den Lippen sehr aufrecht. Auf der Straße würde man ihn wegen der Schnelligkeit und Unabhängigkeit, die er ausstrahlt, vielleicht für einen Softwareexperten halten, oder einen Fahrradkurier. Dabei handelt es sich bei dem Mann um ein Schwergewicht. Siegal, bis 2003 Tänzer in der Frankfurter Kompanie von William Forsythe, gehört inzwischen selbst zu den großen Choreografen in Deutschland.

„Ich bleibe sicher für immer mit mehr als einem Zeh in Forsythes Welt“, sagt Siegal über sich. „Aber ich folge eigentlich schon seit sich das Frankfurt Ballett auflöste ganz eigenen Ideen.“ Davon, dass er das mit Erfolg tut, zeugen aktuell nicht nur der Theaterpreis Faust, den er letzten November für das interkulturelle Stück „Logobi 05“ ergatterte, oder der New Yorker Bessie Award 2008 für „As if Stranger“. Auch die Fördergelder sind ihm hold:

Nach Institutionen wie dem Pariser Theatre de Chaillot, dem Frankfurter Mousonturm, dem Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe oder dem Zollverein Essen hat zuletzt auch die Münchener Muffathalle beschlossen, sich Richard Siegal auf die Fahne zu schreiben: Er erhält vom Kulturreferat der Stadt an der Isar eine dreijährige Optionsförderung von 55.000 Euro jährlich. „Eigentlich wollten meine Frau Paula Sanchez und ich ja ein bisschen ruhiger werden, unserer kleinen Tochter zuliebe“, sagt Siegal zu seiner Erfolgswelle. „Doch mein Beruf bringt es nun mal mit, mobil zu bleiben. Also folgen wir dem Support. Seit zwei Jahren leben wir abwechselnd in Paris, Frankfurt und München.“ Die Isarmetropole hält er für „besonders fruchtbar. In den Schlüsselpositionen sitzen smarte Leute, die ein echtes Interesse daran haben, die Tanzszene zu entwickeln. Die Erwartungen an mich will ich deshalb so kreativ wie möglich umsetzen.“

Einen ersten, ruhmreichen Schritt dazu hat er schon getan: „CoPirates“, das dem Internet 2.0 gewidmete Eröffnungsstück des Münchner DANCE-Festivals 2010, zog normale Zuschauer ebenso in seinen Bann wie die Fachwelt. Den globalen Kessel Buntes mit seiner Plagiatskultur und seiner „Jeder kann alles“-Mentalität zu analysieren, ohne dabei so polemisch zu werden wie Forsythe in seiner Medienschelte „Yes we can’t“ – das muss erst einmal einer hinbekommen. Siegal bewahrt in dem Stück feine Süffisanz, indem er das Prinzip „Local goes global“ anwendet: Einen wesentlichen Teil von „CoPirates“ gestalten lokale Gruppen mit, so dass das Stück an jedem Spielort anders ist. In München traten etwa ungarische Folkloretänzerinnen und schwule Schuhplattler auf. Zusätzlich helfen ihm jeweils Mitglieder der Piratenpartei, das Stück simultan zur Aufführung ins Internet zu bringen und die Webshots und ausgetauschten Tweets gleich wieder auf die Bühne zu transferieren. „Richard Siegal ist einfach einer der ganz Wenigen, die mit digitalen Medien arbeiten und dabei nicht zu technisch werden“, sagt Dietmar Lupfer, künstlerischer Leiter der Muffathalle. „Er garantiert bei allen Experimenten eine hohe tänzerisch-ästhetische Qualität. Das macht ihn zu einem der Wichtigsten in Deutschland.“

Derzeit studiert Siegal „CoPirates“ in Frankfurt neu ein. Eine äthiopische Tanzgruppe und eine Ballettkompanie sollen dabei mitwirken. Was für den Choreografen viel Arbeit bedeutet. In jeder Stadt muss schließlich neu inszeniert werden, und auch der Raum will gestaltet werden. Denn „CoPirates“ trennt nicht zwischen Akteuren und Publikum. Auch die Zuschauer machen mit, mischen sich fröhlich unter die Akteure, wie das im Facebookzeitalter eben so ist. Und sie tun es gerne, denn Siegal steht tanzbaren House-Beats positiv gegenüber. „Balanchine machte auch keinen Unterschied zwischen hoher und populärer Kunst“, sagt er. „Mit dieser aufgeschlossenen Haltung identifiziere ich mich.“

Der heute 42-Jährige begann erst spät zu tanzen. In North Carolina geboren, zog Siegal zunächst mit der Familie nach New Hampshire, wo er aufwuchs. Als er mit 17 die High School abgeschlossen hatte, ging er nach New York City, um Modern Dancer zu werden – ein in Europa undenkbarer Karrierestart. Doch William Forsythe nahm ihn, nachdem Siegal anlässlich einer Vorstellung von „Loss of small Detail“ in Paris Kontakt geknüpft hatte, in seine Reihen auf. „Forsythe ist ein historischer Künstler“, erinnert sich Siegal an seinen Mentor. „Die Zeit mit ihm war meine künstlerische Feuertaufe. Alles was bis dahin in mir steckte, verband sich unter dem Druck, mit ihm zu arbeiten, zu einem sinnvollen Ganzen.“

Als er nicht in die private Forsythe Company mit überwechselte, war alles in ihm fusioniert: „Mein Körper, mein Ich, meine Kultur waren eins.“ Doch auch die Unterschiede wurden ihm bewusst. „Forsythe ist vom Wesen her tief klassisch. Dieses Gefühl, diese Leidenschaft für den klassischen Tanz hat mich nie gepackt.“ Nichtsdestotrotz hat er für Peggy Grelat, Étoile der Opéra de Paris, ein Spitzensolo kreiert, zu einem Stück von John Cage. Man müsse nur das Prinzip des Spitzenschuhs verstehen, dann funktioniere das Ganze sehr wohl, sagt Siegal. Mit den Schuhplattlern in München habe es ja auch geklappt. Für eine große, klassische Kompanie zu arbeiten würde ihn ehren. Die Chance, ein klassisches Ballettpublikum für sich zu gewinnen, hat Richard Siegal allemal. Denn die Musik, die er benutzt, tut nie in den Ohren weh. Seine Experimente provozieren nicht, sie erstaunen. Seine Sichtweise ist nie anklagend oder frustriert, sondern von Gelassenheit und Ironie geleitet. Und: Er spricht Pop. Er beherrscht Cowboygesten, Castingshow-Elemente, Streetdance-Geplauder. Kurz, wenn es jemals jemand schafft, die unsichtbare Wand zwischen Bühne und Auditorium abzuschaffen, dann er.

Das zweite Paket der Münchner Förderung hat Richard Siegal bereits verplant. „2011 wird es eine große Produktion mit dem Architekten Francois Roche geben“, kündigt er an. „Es wird viel mit Raum zu tun haben, wir wollen die Möglichkeiten der Aufführungsorte Hellerau, Muffathalle, Tafelhalle Nürnberg und Theatre de Chaillot richtig ausnutzen. Und auch die Grenze zwischen Tänzern und Publikum soll wieder verschwinden. Darüber habe ich aus CoPirates viel gelernt.“ Klingt, als müsste das ruhige Familienleben noch ein wenig warten.
„CoPirates“: 28.1., Frankfurt, Mousonturm; 19.2. Essen, PACT Zollverein „AS IF Stranger“: 2.2., München, Muffathalle

 

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