„Cinderella“: Ensemble

„Cinderella“: Ensemble

Der Traum vom Glück über den Wolken

Meryl Tankards Höhenflug mit „Cinderella“ in Leipzig

Leipzig, 08/11/2011

Erst mal ein Film. Unscharf in schwarz-weiß. Erinnerungen, ein kleines Mädchen mit Mutter in der Natur, ein Garten, ein wogendes Kornfeld, dann der Schatten eines steinernen Flügels, das Grab der Mutter. Schnitt. Der Vorhang hebt sich, nicht ganz, ein breiter Spalt, dahinter wieder Film, aber weniger gegenständlich, eher strukturelle Bewegung. Wir befinden uns in einer Flughafenhalle. Cinderella trägt die Lasten ihrer zickigen Schwestern, aufgedonnert und arrogant laden sie ein Stück nach dem anderen bei ihr ab. Passanten und ihre üblichen Etüden.

Im Glücksflieger sitzen die Schwestern in der ersten und Cinderella in der letzten Klasse. Weil Träume keine Klassen kennen, träumt sich das unglückliche Kind über den Wolken in paradiesische Gefilde, trifft die Mutter als Fee und erhält das märchenhafte Kleid, denn wegen eines Balles reist das seltsame Trio in ein fernes Land. Die Traumsequenzen sind Anlässe für den Lichtkünstler Alexander Koppelmann seinem Können Raum zu geben und wir sind entzückt über leuchtende, tanzende Blüten und Schmetterlinge und vor allem darüber, wie das Fantastische im Niemandsland über den Wolken den grauen Alltag durchleuchtet.

Bevor es zum Ball geht, durchhuschen wir eine Tanzstunde um dann auf dem Ball all die Schönen und Reichen, bewusste Schwestern inklusive, zu treffen. Sie haben die üblichen Macken, was lustig sein soll, wird schnell albern, dafür fesseln die eleganten Kleider der Damen den Blick. Der Ballsaal ist ein endloser Tunnel, am Ende kein Licht. Cordelia Matthes hat diesen Endzeitraum entworfen, Meryl Tankards Tanzinszenierung nimmt dessen Symbolcharakter kaum wahr.Hier treffen zwei Einsame aus verschiedenen Welten aufeinander. Ein Prinz aus Fernost auf nackten Sohlen und eine Lichtgestalt im weißen Ballkleid namens Cinderella aus dem Abendland. Im Pas de deux gibt das eine schmiegsame Walzermelange für Isis Calil de Albuquerque und Tomás Ottych in den Hauptpartien.

Die Stunde schlägt jedem Menschen an jedem Ort der Welt. Wir wissen Bescheid. Cinderella enteilt wie ein Traum und hinterlässt doch einen Schuh als Pfand. Das bringt einen Ritt um die Welt im Film im Stile der Prager Laterna Magica für den Prinzen und eine spaßige Suche nach dem passenden Schuh seiner fernöstlichen Helfer im Publikum. Der Schuh mag mancher Besucherin in der Leipziger Oper passen, allein der zweite fehlt, den hat allein Cinderella. Sie finden sich. Sie kriegen sich. Sie entschwinden über den Wolken, erste Klasse versteht sich, mit dienenden Schwestern.

Mit Hilfe von Filmzuspielungen und Videokunst setzt Meryl Tankard Bilder. Choreografisch bleibt ihr Einsatz bescheiden. Es geht von einer Station zu nächsten, eine Entwicklung, vielleicht sogar eine Art Emanzipation der jungen Frau namens Cinderella, die unsere Anteilnahme provoziert, sehen wir nicht. Eher wird die Frage provoziert, ob man es sich nicht zu leicht macht, wenn die Schwestern nur Fratzen sind, wenn Figuren wie die Stiefmutter und der leibliche Vater Cinderellas wegfallen und damit jede Chance, Beziehungen unterschiedlicher Art aufzubauen. In Tankards Bewegungsmaterial findet sich kaum ein Ansatz, der uns auf die Spur führt, dass dieser Märchenstoff grimmiger und abgründiger ist als es zunächst scheinen mag. Den Tänzerinnen und Tänzern des Leipziger Balletts stehen größere Herausforderungen zu. Dass sie damit umgehen könnten, haben sie längst gezeigt. So gilt ihnen der starke sympathische Beifall am Schluss und fällt verhaltener aus, wenn sich die Choreografin verbeugt. Das Publikum aber tobt wenn die Musikerinnen und Musiker des Gewandhausorchesters mit dem Dirigenten William Lacey auf die Bühne kommen. Der wahre Höhenflug dieses Ballettabends findet im Orchestergraben statt. Sergej S. Prokofjews Musik wird hingebungsvoll gespielt und zu bedauern ist jede gekürzte Minute davon, die dem choreografischen Rotstift zum Opfer gefallen ist.

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