Schweben und kleben
Das movingtheatre Köln erinnert mit neuem Stück an den antiken Erfinder „Daedalus“
„Revolver/Identities“, eine internationale Tanztheater-Koproduktion des Kölner moving-theatre.de mit CONTRAPUNCTUSdanceport (Barcelona/Spanien) wurde in der Alten Feuerwache uraufgeführt
Gelungenes Experiment: Auf Initiative des movingtheatre.de haben vier Choreografen aus vier Ländern gemeinsam ein inhaltlich wie tänzerisch überzeugendes Tanztheater über die Brüchigkeit gesellschaftlicher Systeme inszeniert.
Zusammenbrechende Gesellschaften in Nordafrika. Weltweite Schuldenkrise. Es knackt und knirscht an allen Ecken. So wie im Tanztheater „Revolver/Identities“, einer internationalen Koproduktion des Kölner movingtheatre.de und dem spanischen Contrapunctus danceport. Schmerzhaft kratzend werden darin Styroporplatten verschoben. Einige sind beschriftet: BIG, DIFFERENT, ME oder FRAGILE steht darauf. Zwei Tänzerinnen und drei Tänzer versuchen daraus Blöcke zu errichten, rammen sie in den Boden und legen sich dahinter. In der ausdrucksstarken Inszenierung ist das ein besonders starkes Bild: Menschen stellen sich ihren eigenen Grabstein auf mit Begriffen, die bislang ihr Leben bestimmten. Nun sind sie von der Entwicklung ad absurdum geführt. Nur eine Tafel steht bis zum Ende des Stücks: FRAGILE – Zerbrechlich. Die soziale Eiszeit in Form der Styroporplatten rückt unaufhaltsam näher, die gesellschaftlich Ausgestoßenen organisieren sich – Bühne und Wirklichkeit sind sich nah wie selten: „Eine Gesellschaft kurz vor der Explosion“ (Programm).
Jeder der vier Choreografen Claudi Bombardó Oriol (E), Karl A. Schneider (Aus) sowie Massimo Gerardi (D/I) und Emanuele Soavi (D/I) entwickelte dazu einen choreografischen Beitrag, der in einer gemeinsamen Phase zu einem inhaltlich schlüssigen und tänzerisch überzeugenden Stück verschweißt wurde. Alles ist darin zu finden: Aufruhr und Widerstand, Einkerkerung und Folter, Genuss-Exzesse, Werteverfall und eine bissige Satire auf das Unvermögen, tragfähige Lösungen zu finden. Während die einen in Untergangsstimmung feiern, sind andere auf der Suche nach ihrer Identität im Chaos. Aufreizend tanzen Iratxe Ansa und Nora Sitges-Sardá, schnurren geschmeidig tanzend in synchroner Eintracht, um sich gleich darauf fauchend zu fetzen. Wütend kratzt eine das YOU von der Styroporplatte, zerbricht sie schließlich. Die andern suchen sich selbst, geraten zwischen die Mahlsteine des politischen Umbruchs, finden sich eingesperrt, gefoltert.
Robert Goodby und Mircea Ghinea tanzen mit gefesselten Händen ein bewegendes Duett zweier Gefangener, voller Angst und doch voll Hoffnung. Einfühlsam schiebt einer seinen Kopf in die Armbeuge des anderen und richtet ihn damit wieder auf. Die großartig ausgespielten Szenen werden von Blackouts oder einem krachenden Revolverknall beendet. Das ist dann der Auftakt einer wiederholten Hetzjagd aller auf Emanuele Soavi, der als agent provocateur mit beißender Ironie das Geschehen kommentiert. Janusköpfig, mit rollenden Augen am Hinterkopf, verdrehten Füßen, spielt er die zwei Seiten der gleichen Medaille. Das Reizvolle an dieser Inszenierung ist, dass sie unterschiedliche tänzerische Handschriften vereint, die durch eine geschickte Dramaturgie perfekt aufeinander abgestimmt und verbunden werden. Das liegt vor allem an der choreografischen Tragfähigkeit jeder einzelnen Szene und an der starken tänzerischen Präsenz der Akteure. „Revolver/Identities“ ist bildgewaltiges politisches Tanztheater, das man auf Kölner Tanzbühnen bislang vermisst hat. Selten war eine Inszenierung so nahe am Puls der Zeit.
Noch keine Beiträge
basierend auf den Schlüsselwörtern
Please login to post comments