Keine Angst vor großen Formen

„Jagden und Formen“ von Sasha Waltz und Wolfgang Rihm auf Kampnagel

Hamburg, 15/01/2010

Angst vor großen Formen kennt Sasha Waltz nicht, im Gegensatz zu Tanztheater-Kollegen, die munter kurze Musikstücke bunt mischen. Unter anderem setzte sie die Opern „Dido und Aeneas“ und „Medea“ sowie Berlioz’ Sinfonie „Roméo und Juliette“ in Szene. Jetzt gastierte sie auf Kampnagel mit ihrer 2008 uraufgeführten Choreografie zu Wolfgang Rihms etwa einstündigem Orchesterstück „Jagden und Formen“. Ihr 14-köpfiges Ensemble tanzte zur Live-Interpretation vom exzellenten Ensemble Modern (24 Musiker, Ltg.: Frank Ollu) vor total ausverkauftem Haus, selbst Treppenstufen waren okkupiert. Waltz zieht Zuschauer in Scharen an, der Lohn für jahrelange harte Aufbauarbeit und schöpferische Kraft. Eines tritt hier wieder einmal bei aller Kritik am Hype für das Tanztheater klar zu Tage: Nie zuvor gab es eine derartige Menge an vorzüglichen, individuell profilierten Tänzern und Tänzerinnen, die in der klassischen Szene keine Chance hätten, weil sie den körperästhetischen Anforderungen nicht entsprechen. Wie viel Begabungen in der Vergangenheit ungenutzt blieben, kann man nur ahnen. Waltz’ Ensemble weist eben diese Vielfalt der Charakteren auf, die allein schon Farbe ins Spiel bringt. Dabei herrscht Sachlichkeit und kühle Professionalität vor. Die Gesichter bleiben unbewegt.

Auf der diagonal aufgeteilten Bühne, in deren linken Abschnitt das Ensemble Modern sich postiert, lässt der größere rechte Platz für ausgreifenden Tanz. Und der startet langsam mit Frauen in weißen Kleidchen, der sich bald eine schwarz gekleidete hinzugesellt. Aus schmaler Gestik, aus Arm-Ausrollen, Hüftverschiebungen entwickeln sich Bewegungsfolgen, dann Raumordnungen, immer von neuem, nie abschließend in betonierter Pose. Männer in Alltagskleidung, auch welche mit Röcken, stoßen dazu. Waltz wechselt rasch die Zahl der Auftretenden, schafft so Dynamik, selten sind alle 14 Tänzer gleichzeitig tätig.

Direkte Kontakte zur Musik sind kaum wahrnehmbar, geschweige denn synchrone Abläufe. Über Impulse laufen Verbindungen, etwa mit dem lautstarken Einsatz der Percussion-Instrumente verteilen sich die Darsteller mit explosiver Rasanz im Raum. Die Verzahnung von Tänzern und Musikern verdichtet sich über Einzelkontakte, bei denen etwa die Englischhorn-Bläserin gehoben wird und in der Luft weiterspielt, eine Klarinettistin zwischen den Tanzenden herumgeht, bis zu dem Moment, in dem fast alle Musiker sich zwischen die liegenden Darsteller platzieren und, auf dem Rücken ausgestreckt, weiter musizieren. Ein faszinierender Augenblick. Der hetzende Charakter einer Jagd scheint selten auf, die Entfaltung von Formen im Raum und Gruppenkonstellationen desto deutlicher. Im Duo dekliniert ein Paar, sie zierlich, er bullig, eine sadomasochistische Liebesbeziehung durch. Obwohl sie zwischen, hinter seinem Umschlingen manchmal zerdrückt zu werden scheint, befreit sie sich furchtlos immer wieder.

Im Zeitlupentempo gelingen Waltz atemberaubende Zuspitzungen. Ein Trio, zwei Männer, eine Frau, proben virtuos durch, wie viel oben, unten, mittendurch zu agieren möglich ist. Aus einem Menschenklumpen quetscht sich mit Mühe einer hervor. Zwei Gruppen ziehen rollend Diagonalen, die sich zu Haufen zusammenballen, gestützt von einer Person, die senkrecht wie Pfosten steht. Aus einem in Linie von Frauen vollzogenen grand pliè mit erhobenen Armen wird ein rätselhaftes Ritual. Mir fehlt bei dem Ausstreuen der unerschöpflich scheinenden Waltz-Ideen oft der stringente Zug, die Kontrolle eines ordnenden Geistes. Dadurch scheint mir zwischendurch die Spannung abzusacken.

Finale: Jagd auf eine unerschrockene Frau, sie wehrt alle Angriffe kraftvoll und geschmeidig ab, bis ihr zum Schluss die Kraft versagt und sie zu Boden fällt. Zu ihr gesellen sich zwei weitere Umfallende: ein Mann und eine Frau, letztere nach längerem Solo, von ferne an den Opfertanz aus „Sacre“ erinnernd. Das Ensemble versammelt sich um die drei – und weicht langsam von ihnen zurück. Allmählich verlöscht das Licht. Ein Schluss, der mir etwas aufgesetzt erscheint, nimmt man ihn nicht als open end wahr wie die Komposition, dauernd verändert, „überschrieben“ von Wolfgang Rihm.

Gespielt wurde der Zustand 2008. Frank Ollu dirigierte den komplexen Ablauf der nervösen, zuckenden, zersplitterten, scharfkantigen Musik mit einer Gestik, die manchmal so tänzerisch anmutet als sei sie Teil der Inszenierung. Die Musiker beherrschen ihre Parts konzentriert, auch wenn sie ins Geschehen auf der Fläche einbezogen sind. Jeder Klangpartikel scheint durch, Klangblöcke, mal durch Blechbläser, dann Holzbläser oder Perkussion, scheinen eine Gliederungsfunktion zu haben. Eine sehr farbige, immer wieder aufgefächerte Komposition, deren innerer Sinn sich mir nach dem ersten Hören nicht komplett erschlossen hat. Was den Reiz nicht geschmälert hat – wie bei Sasha Waltz’ Choreografie. Der Beifall ist rasend.

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