Zum Tanzen geboren – Gelenkhypermobilität bei Tänzern - Teil II

Vortrag und Workshop von Dr. Boni Rietveld, Den Haag

Frankfurt, 02/06/2010

Vorweg: Vortrag und Workshop waren eines der Highlights des Kongresses, nicht zuletzt durch die lockere, witzige Art, in der es Dr. Rietveld versteht, wissenschaftliche Erkenntnisse zu vermitteln. Herr Dr. Rietveld ist ein europäischer Spezialist für orthopädische Chirurgie bei Tänzern und auch Musikern. Er studierte außer Medizin parallel Musik und bläst virtuos ein Minijagdhorn, das ihn wie sein Schatten begleitet. Mit Unterstützung der holländischen Regierung eröffnete der Arzt 1993 das Medizinische Zentrum für Tänzer und Musiker (MCDM) in Den Haag, nun seit 2003 in neuen Praxisräumen, die durch Ihre Königliche Hoheit Prinzessin Margriet feierlich eröffnet wurden. Und last but not least: Diese Praxisräume sind mit einem Original-Schwingboden ausgestattet – sicher einmalig in Europa! Hier drängt sich die Frage auf, warum Hunderte von Tanzschulen mit Beton- oder Steinböden in Deutschland eine behördliche Zulassung erhalten. Die Verletzungsgefahr speziell der Sprunggelenke ist hier vorprogrammiert.

Dr. Boni Rietveld betreut als Orthopäde das Nederlands Dans Theater, sowie weitere Tanzkompanien. Von 2007 – 2009 war er Präsident von IADMS, der International Association for Dance Medicine Science. Vor fünf Jahren gründete er die niederländische Vereinigung für Tanzmedizin; seit 2007 gehört er zum wissenschaftlichen Kuratorium von tamed. Sowohl im Vortrag als auch in seinem praktischen Workshop erläuterte Herr Dr. Rietveld verschiedene körperliche Untersuchungen von Tänzern mit Schwergewicht der unteren Extremitäten. Wichtig insofern, da hier 77% aller Tanzverletzungen stattfinden und Unwissenheit über anatomische Verhältnisse und Schwachpunkte zu fehlerhafter Technik durch falsche kompensatorische Mechanismen führt. Besonders prädestiniert sind hier Tänzer mit einer großen Überbeweglichkeit der Gelenke. Jeder Tänzer kann eine Hypermobilität anhand der 9-Punkte-Skala des Beighton Scores selbst diagnostizieren, nach der 5 Punkte und mehr ein Indiz für Überbeweglichkeit sind.

Der Test: Das Aufstellen der kleinen Finger auf 90° ist mit Hilfe der anderen Hand möglich (= rechts und links jeweils 1 Punkt) Anlegen des Daumens an die Innenseite des Unterarm ist möglich (= rechts und links jeweils 1 Punkt) Die Überstreckbarkeit der Ellbogen-Gelenke nach hinten um mindestens 10° ist möglich (= rechts und links jeweils 1 Punkt) Die Überstreckbarkeit der Knie-Gelenke nach hinten um mindestens 10° ist möglich (= rechts und links jeweils 1 Punkt) Es besteht die Fähigkeit stehend bei durchgestreckten Knien mit beiden Handflächen den Boden zu berühren (= 1 Punkt) Die maximal erreichbare Punkteanzahl liegt bei 9. Ab 5 Punkten liegt definitionsgemäß bereits ein „Gutartiges Gelenküberbeweglichkeits-Syndrom“ (benign joint hypermobility syndrome) vor.

Zu Beginn des Workshops zeigte ich, Medizinjournalist und Ballettfotograf, eine Fotoserie aus einem Grand Pas de deux in der Swan Lake Produktion der Guangdong Acrobatic Troupe of China (GATC), die im März 2010 in Deutschland zu sehen war. Die 21-jährige Tänzerin Yu Wanqing zeigte hier in ihren Ballettposen eine Überstreckbarkeit der Kniegelenke („back knee“) von vollen 30°, ohne dass in anderen Bewegungen, wie einer Arabesque, eines Développés oder à la Secondes im Relevé, die Balance und Sicherheit des Standbeins gefährdet gewesen wäre. Yu begann früh ihre klassische Ballettausbildung in Chengdu, Sichuan Provinz, ging mit 14 Jahren zur GATC und tanzt seit 2009 den Weißen Schwan. Die Ausbildung in der Schule der GATC erfolgt in zwei Sparten: Tänzer erhalten zusätzlich eine Akrobatik Ausbildung, während akrobatische Künstler parallel beim Ballettunterricht teilnehmen.

Am Anfang stand ein Pas de deux, der Tanz „Spitze auf dem Kopf des Mannes“, der beim Internationalen Circus Festival von Monte Carlo 2002 den Goldenen Clown - den Oscar der Zirkuswelt - gewann. „Die beste Nummer, die ich je gesehen habe!" soll Fürst Rainier von Monaco über diese bislang unübertroffene akrobatische und tänzerische Meisterleistung gesagt haben. So entstand die Idee, um diesen Pas de deux zusammen mit den besten Tänzern und Akrobaten aus dem Reich der Mitte die chinesisch-akrobatische Version von Tschaikowskis Erfolgsballett zu schaffen. Mögen Umsetzung und Choreografie dieser Produktion, in der sich akrobatische Zirkuskunst mit klassischem Tanztheater verbinden, bei etlichen Ballettfreunden Unbehagen und Kritik auslösen – die perfekt tänzerisch-akrobatische Leistung dieser fantastischen Show ist bislang unübertroffen, bietet einen neuen Ansatz und ist letztlich auch für Kritiker sehenswert.

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