Plan b.01 funktioniert

Mit seinem ersten Programm fürs Ballett am Rhein überzeugt Martin Schläpfer auch das Düsseldorfer Premierenpublikum

Düsseldorf, 17/10/2009

Nicht nur für die Tanzkompanie der Rheinoper, die sich seit Beginn der Spielzeit „Ballett am Rhein“ nennt, auch fürs Düsseldorfer Tanzpublikum ist die Bestellung des 50-jährigen Schweizers Martin Schläpfer zum neuen Ballettdirektor des Zwei-Städte-Instituts am Niederrhein ein gewaltiger Umbruch. Dreizehn Jahre lang hat der gebürtige Ungar Youri Vàmos zwischen seinen dramaturgisch sauber gearbeiteten, aber eben doch einer, gänzlich anderen, altmodischeren Ästhetik verhafteten Handlungsballetten nur punktuell einen Tanz zugelassen, der voll auf der Höhe dieser Zeit war und für den Schläpfer steht wie kein anderer Choreograf seiner Generation: ein Revolutionär, der aber mit beiden Beinen fest in jener neoklassischen Tradition steht, die über den Holländer Hans van Manen in gerader Linie zurückführt auf den genialen George Balanchine. In Mainz, wo Schläpfer zehn Jahre lang gewirkt und ein Ensemble aufgebaut hat, dem längst nichts Provinzielles mehr anhaftete, hatte Schläpfer seine Programme mit römischen Zahlen durchnumeriert, und auch für Düsseldorf und Duisburg scheint er Ähnliches vorzuhaben; die fünf Programme, die Schläpfer an der Deutschen Oper am Rhein für seine erste Spielzeit angekündigt hat, tragen die Bezeichnungen b.01 bis b.05. b.01, mit dem sich Schläpfer und seine neue, zu annähernd gleichen Teilen aus Resten des alten Rheinopern-Balletts, fast der kompletten Mainzer Truppe und frisch hinzu engagierten Tänzern bestehende Kompanie am Freitagabend im Düsseldorfer Opernhaus vorstellten, zeigt sich der anstehenden Aufgabe einer ästhetischen Klimaveränderung sehr bewusst. Schläpfer hat den Dreiteiler geschickt komponiert aus einem eigenen älteren, überaus amüsanten Meisterwerk, dem „Strauß-Ballett „Marsch, Walzer, Polka“, einer relativ neuen Choreografie seines großen Vorbildes Hans van Manen – „Frank Bridge Variations“ -, die im Programm nicht zu Unrecht als „ein verdichtetes Kompendium seiner gesamten Tanzkunst“ bezeichnet wird, sowie einer Uraufführung zur 3. Sinfonie des Polen Witold Lutosławski, wie sie sich sperriger und abweisender kaum denken lässt: ein Test nicht nur für die in voller Mannschaftsstärke einbezogene Kompanie, sondern durchaus auch fürs Publikum.

Natürlich ist der Abend nach „Marsch, Walzer, Polka“ und den „Frank Bridge Variations“ mit ihren eingängigen, von den Düsseldorfer Symphonikern unter Christoph Altstaedt mit opulentem Wohlklang gespielten Musiken, schon fast gewonnen. Seine Choreografie zur Annen-Polka, dem Radetzky-Marsch und den Walzern „Sphärenklänge“ und „An der schönen blauen Donau“ hat Schläpfer nicht etwa in jener Form nach Düsseldorf übertragen, in der sie sein Mainzer Ballett im Frühjahr 2006 uraufgeführt hatte. Ohne dass dadurch auch nur eine Winzigkeit an Subtilität verloren ginge, hat er die Ensemble-Teile seiner Choreografie mit zusätzlichen Tänzern verstärkt, die grandiosen Soli und Kleingruppen aber belassen wie sie waren. Tatsächlich wirkt die Choreografie, die sich von den melodischen Schmeicheleien dreier Mitglieder der Familie Strauß nicht etwa verführen lässt, sondern ihnen grandios eigenwillige, nie gesehene Bewegungen entgegensetzt, in Düsseldorf womöglich noch stärker als bei der Mainzer Uraufführung, auch, weil sich die Tänzer – allen voran Camille Andriot, Julie Thirault, Marlúcia do Amaral, Carolina Francisco Sorg, Yuko Kato, So-Yeon Kim, Callum Hastie, Sonny Locsin, Bogdan Nicula, Chidozie Nzerem und, schließlich, Jörg Weinöhl – in bestechender Form zeigten. An diesem Abend überstrahlten der Witz und die Originalität dieser Choreografie fast sogar die majestätische Ruhe eines so in sich ruhenden Meisterwerks, wie es van Manens „Frank Bridge Variationen“ darstellen: 24 Minuten Tanz der konzentriertesten Art, ein einziger großer Strom, dessen Bewegungen für fünf Tänzerpaare sich nach dem assoziativen Prinzip eins Traums miteinander verflechten. Die Beziehungen zwischen den Paaren, denen van Manen Duos, Trios, Doppel-Pas de deux sowie zwei starke Männer-Soli choreografiert hat, erscheinen dabei, wie praktisch immer bei van Manen, getragen von einem Vertrauensverhältnis, das der Berührung nicht unbedingt bedarf. Wir sehen zwar manchen schönen Lift und viele partner-unterstützte Balancen. Aber häufig umkreisen sich die Frauen und Männer auch nur, als wenn sie ihre Verlässlichkeit abschätzten. Diese Verlässlichkeit aber ist nie in Frage gestellt. Das Dunkel dieser Choreografie, der Keso Dekker eine schwarze Rückwand als Hintergrund geschaffen hat, auf der sich mit raffinierten Lichteffekten dreier gegeneinander sich verschiebender Flächen ein fernes Wetterleuchten abzuspielen scheint, ist immer Licht genug; der Traum, so dunkel er auch grundiert sein mag, wird nie zum Alptraum. Doch der wahre Test steht noch bevor – und ob der vollends geglückt ist und „3. Sinfonie“ sich künstlerisch auf einer Ebene mit den beiden vorangegangenen Meisterwerken befindet, wage ich nach einmaligem Sehen nicht zu entscheiden. Schläpfer hat sich für seine erste Düsseldorfer Uraufführung eine überaus schwierige, sperrige Musik ausgewählt (und beantwortet sie mit einer ebenso sperrigen Choreografie): die zwischen 1972 und 1983 im Auftrag des Chicago Symphony Orchestra komponierte 3. Sinfonie des Polen Witold Lutosławski, „eine Musik“, so Schläpfer, „die wie ein Spinnennetz gesponnen ist, das unter Strom steht“. Doch die ersten Minuten des Balletts vollziehen sich in der Stille. Der Zuschauer blickt auf eine Bühne (von Thomas Ziegler), in deren Hintergrund ein Mohnfeld wächst, das beim Betrachter aber eher den Eindruck eines Buschfeuers hinterlässt. In die Luft ragt nicht nur ein geschwungener Stahlträger. Dort sind auch drei Käfige aufgehängt, in denen – wie seinerzeit die Wiedertäufer am Turm der Lamberti-Kirche zu Münster – drei seltsame Menschenwesen vegetieren. Auf der Tanzfläche aber produzieren sich fünf Tänzerinnen in Spitzenschuhen, die ihre Arme und Beine abwechselnd in signalähnliche Bewegungen versetzen.

Nach wenigen Minuten fällt der Bühnenvorhang, und wenn er sich wieder öffnet, schickt Schläpfer ein fast 20-köpfiges Männer-Ensemble auf die Bühne, an dessen Ende – rechts im Hintergrund – eine einzelne Tänzerin wartet. Die Kostümbildnerin Catherine Voeffray hat die Tänzer mit Strickkostümen ausgestattet, die viel freie Haut lassen und die Körper hier und da unvorteilhaft ausbeulen: wir sehen, vielleicht, Menschen nach einem (atomaren?) Katastrophenfall. Aber noch immer vollzieht sich alles ohne Musik; die einzigen Laute entstehen, wenn die Füße – nun auch durchaus der Frauen – hart auf den Boden gesetzt werden. Wenn die Musik endlich einsetzt, klingt ihr erster Akkord beinahe wie eine Detonation, und das, was nun für etwa eine halbe Stunde sich ereignet, ist musikalisch wie choreografisch, eine Art Suche nach der verlorenen Mitte und Harmonie. Noch dann, wenn Schläpfer, selten genug, sein komplettes 40-Köpfe-Ensemble gleichzeitig auf die Bühne schickt, bleibt die Bewegung kleinteilig. Kleine Gruppen marschieren auf und über die Bühne, verstricken sich, allein oder mit anderen, in komplizierte Bewegungen und Beziehungen, ohne dass sich daraus auch nur im Ansatz etwas Anekdotisches oder gar eine Geschichte ergäbe. „Ich nenne die einzelnen Passagen ,Punkte’“, hat Schläpfer dazu seiner Dramaturgin Anne do Paço erzählt: „weil ich die Musik so erlebe, so löchrig, als Tonfetzen, Felder, aber auch Teile, die wie Wolken nebeneinander und untereinander stehen oder schweben und sich manchmal bewegend auch vereinen, sich zusammenschieben, ineinander schieben“. Was ihm vorschwebte, sei ein Tanz gewesen, „der wirkt, als entstehe er aus dem Moment heraus ohne Vorbereitungszeit – gefüllt mit der weichen Spannung von Raubkatzen kurz vor dem Absprung“. Das Ballett „3. Sinfonie“ endet wie es begonnen hat: musiklos. Langsam quillt das komplette Ensemble auf die Bühne. Ein Tänzer nach dem anderen lässt sich mit dem Gesicht zum Publikum auf dem Boden nieder. Ganz zum Schluss, wenn die Bühne im Dunkel versinkt, liegen alle am Boden und nur die Menschen in den Käfigen, nun ins Licht gerückt, sind in Positionen, die sie 40 Minuten lang nicht kannten: Sie stehen aufrecht. In den Schlussapplaus mischen sich zunächst einzelne, heftige Buhrufe; man erwartet, dass sie sich zu einem Buhchor vermehren werden, wenn sich schließlich der neue Ballettdirektor und Chefchoreograf seinem Publikum stellt. Doch nichts da; wenn nach der endlos langen Verbeugungschoreografie endlich Martin Schläpfer auf die Bühne kommt, haben sich die kritischen Zuschauer beruhigt, und nur noch starker Beifall ist zu hören. Das Düsseldorfer Premierenpublikum hat den Testlauf ebenso bestanden wie das neue Ballett am Rhein und sein Chef. Denn das kann man heute schon voraussagen: härter, sperriger, konfliktreicher als mit dem Programm „b.01“ und der „3. Sinfonie“ wird es mindestens in dieser ersten Spielzeit auf Schläpfers Tanzbühne nicht werden.

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