Endlager Stuttgart?

Das Ballett VorPommern gastiert beim Musikfest mit „Le Sacre du printemps“

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Stuttgart, 17/09/2009

Kein Vorwurf gegen die Veranstalter: die hatten lediglich angekündigt, dass im Rahmen des Musikfestes das BallettVorpommern mit seiner Produktion von „Le Sacre du printemps“ in Stuttgart gastieren würde. Nur das Bekenntnis, dass ich in meiner Naivität geglaubt hatte, dass die Greifswalder mit ihrem Ballettabend „Goldberg Variationen“ und „Sacre du printemps“ auftreten würden. Naivität – oder doch eher Senilität? Denn das schien mir zwar eine gewagte Kombination: „Goldberg Variationen“ kontra „Sacre du printemps“ an einem Ort, der ja eher Bach als Strawinsky zu seinem Stadtheiligen erkoren hat. Immerhin: ich war gespannt auf diese Konfrontation, die bei ihrer Premiere am 8. November 2008 in Greifswald durchweg positive Kritiken bekommen hatte.

Und ich war gespannt auf Ralf Dörnen, Jahrgang 1960, als einen Choreografen der mittleren Generation, aufgewachsen unterm Bayer-Leverkusener Kreuz, groß geworden bei John Neumeier in Hamburg und seit 1997 Ballettchef in Greifswald/Stralsund. Und doppelt interessant wurde es für mich, nachdem mir Dörner eine DVD mit der Greifswald-Stralsunder Produktion geschickt hatte: Bachs „30 Variationen. mit verschiedenen Veränderungen vors Clavicimbal mit zwei Manualen“, BWV 988, als Modellfall einer Welt, in der das Prinzip der Ordo höchste Gültigkeit hatte, als Gegenstück zu Strawinskys „Bilder aus dem heidnischen Russland“ als Beschwörung einer atavistischen Welt vor jeglicher zivilisatorischen Ordnung.

Es hat nicht sollen sein! Denn das Programmheft informierte mich, dass es an diesem Abend im Hegel-Saal zuerst Beethovens Fünfte Sinfonie in c-Moll geben würde, und nach der Pause als Ballett „Le Sacre du printemps“, gespielt von den vor der Bühne postierten Stuttgarter Philharmonikern unter ihrem Chefdirigenten Gabriel Feltz – eine Interpretation, durchaus konzertreif, nur leider den Tänzern auf der Szene die Füße abschneidend.

Ging es Strawinsky um ein Ritual aus grauer Vorzeit, so haben Dörnen und sein Bühnenbildner Hans Winkler den Spieß umgedreht und ihre tänzerische Aktion in eine drohende Zukunft katapultiert. Denn was sehen wir, wenn der hässlichste aller Theatervorhänge aufgeht? Eine Abwrackhalde, mit dem ganzen Ostseeschrott aus ausrangierten Kühlschränken, Waschmaschinen, Badewannen und Elektromüll. Stuttgart also als eine Art Ersatz für Gorleben? Das kann ja heiter werden! Wird es aber nicht, ganz und gar nicht! Denn was sich auf dieser unentsorgten Mülldeponie tut, ist ein verzweifelter Überlebenskampf einer Menschheit – was Menschheit: eines Haufens, eines Rudels, eines Packs lemurenhafter Kreaturen, wie Spider-Figuren, abgerissen, blutbespritzt, die sich kannibalisch an den Kragen und sonst wohin gehen – geradezu verblüffend stimmig zu den Klängen aus dem Orchesterparkett (denn Dörnen ist ein Choreograf, der sich sein musikalisches Gütesiegel bei Neumeier in Hamburg ertanzt hat).

Und so hebt es an, dieses Chaos-Opferritual in finsterster, nur gelegentlich von Blitzen durchzuckter Nacht. Mit einer um ihre elementarsten Lebensbedürfnisse kämpfenden Meute, in der jede und jeder, gleich welchen Geschlechts, des anderen Feind ist. Auf allen Vieren kriechend, sich gegeneinander schleudernd, sich kopfüber aufeinander stürzend. In einem Free-Style-Catch-as-catch-can, das eher einem gegenseitigen Abschlachten gleicht, konvulsivisch zitternd am ganzen Leib. Sich spastisch in den Raum katapultierend. Eine einzige postzivilisatorische Orgie der entfesselten Triebe. Wie ein Begleitspektakel zu Lars von Triers Film „Antichrist“.

Da ist nichts von Pommerland ist abgebrannt – eher denkt man an eine Wüste, verursacht von einer selbstmörderisch gezündeten Rakete auf dem verseuchten Gelände von Peenemünde, mit den Überlebenden aus Greifswald/Stralsund (die sich wehmütig an jene Zeiten erinnern, da einst ein Caspar David Friedrich in ihren Mauern lebte) – und einer japanischen Mater dolorosa (Ayako Nomura) wie aus einem Shinto-Tempel.

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