Typisch tierisch, allzu menschlich
„Just a game“ in Mannheim
Sacre meets Picasso beim neuen Mannheimer Tanzabend von Stephan Thoss
Drei Jahre hat es gedauert, bis nach der umbaubedingten Schließung des Nationaltheaters Mannheim die neue Interims-Spielstätte OPAL (Oper am Luisenpark) zur Verfügung stand – drei Jahre, in denen Ballettchef Stephan Thoss und sein Ensemble heroisch gegen die verminderte Sichtbarkeit in der Quadratestadt angekämpft haben. Für den aktuellen Ballettabend „Poem an Minotaurus / Le Sacre du Printemps“ gab es zum ersten Mal wieder, was als Standard im Mannheimer Dreispartensystem gilt: Einmal im Jahr darf die Tanzsparte die Bühne im großen Haus bespielen und das Orchester beschäftigen.
Dieses lang ersehnte Stückchen Normalität hat Stephan Thoss ganz persönlich genutzt – ohne wie so oft in den vergangenen Jahren choreografischen Newcomern eine Chance zu geben. Für den neuen zweiteiligen Ballettabend hat er auf zwei seiner Erfolgschoreografien zurückgegriffen und ein beeindruckendes Heimspiel für seine sechzehnköpfige Truppe kreiert.
Musik statt Libretto für Mannheimer Tanzmaschinen
„Le Sacre du Printemps“ ist zum Synonym für den spektakulären Startschuss in ein modernes Tanzzeitalter geworden – vom Uraufführungsskandal 1917 bis zu ungezählten choreografischen Varianten, von denen einige Tanzgeschichte geschrieben haben. Stephan Thoss hat seine eigene Sacre-Geschichte. Mit dieser Choreografie verabschiedete er sich 2006 von seiner Ära als Direktor der Staatsoper Hannover; die angekündigte Mannheimer Premiere 2020 fiel der Corona-Pandemie zum Opfer. Jetzt aber – jetzt zeigt sich, wie modern, eigenwillig und zeitlos seine choreografische Handschrift ist, und was für ein besonderes Ensemble er um sich geschart hat.
Kein Frühlingsopfer, kein ekstatischer Tod, überhaupt keine Geschichte: Stephan Thoss lässt sich statt vom Libretto vom Rhythmus der Musik leiten. Das geht so weit, dass er den Tänzerinnen und Tänzern einzelne Instrumente zuweist – einmal ist es nur die Hand, die scheinbar direkt von der Klarinette bewegt wird. Jānis Liepiņš am Pult spürt der Melodik nach, bevor er den heidnischen Klang-Tumult im Orchester des Nationaltheaters losbrechen lässt. Auf der Bühne ist nichts von Frühlingsidylle zu sehen, im Gegenteil: Bizarre geometrische Objekte läuten das Maschinenzeitalter ein. In silbrig glänzenden, futuristisch anmutenden Langarm-Trikots formt das Ensemble eine Armee von Körpermaschinen.
Bis an die anatomische Grenze einer Bewegung gehen – das ist die Herausforderung, die der Choreograf den Tänzerinnen und Tänzern gestellt hat. Statt eingeübter technischer Brillanz sieht man Menschenkörper, die das Unmögliche hinterfragen, um das Mögliche im individuellen Bewegungsspielraum sichtbar zu machen. Die Tänzer*innen, die Pina Bauschs legendäre Sacre-Version tanzen, müssen sich am knöcheltiefen Torf bis zur Erschöpfung abarbeiten. Das Mannheimer Ensemble geht freiwillig an die körperlichen Extreme – das ist das Opfer, das sie bringen. Stellvertretend für das, was menschliche Motorik kann, gerät das abschließende Trio von Lorenzo Angelini, Dora Stepušin und Reiko Tan zu einer Feier kraftvoller Tanzmaschinen.
Zum Start: Picasso und sein Minotaurus
Den Auftakt des Abends bildet das 30-Minuten-Stück „Poem an Minotaurus“ (Uraufführung im Saarländischen Staatstheater Saarbrücken 2008), in dem Stephan Thoss seinen poetischen Assoziationen zu Pablo Picasso Raum gegeben hat. Als musikalischen Partner hat er sich John Adams herausgesucht, dessen minimalistische Kompositionen aufs Beste mit der fragmentierten Bilderwelt Picassos harmonieren. Der Minotaurus, ein Stier-Mensch-Fabelwesen, hat es Picasso und damit auch Stephan Thoss angetan – als Symbol für Kraft und Erotik. Picasso gibt es gleich vierfach in diesem Stück, während Ariana di Francesco die Aufgabe meistert, allen verschiedenen Frauen in Picassos Leben Gestalt und Charakter zu geben.
Videoprojektionen vermitteln den Blick des Choreografen auf Details von Picassos Zeichnungen - das vorherrschende Schwarz-Weiß wird von einem spektakulären Tänzerpaar repräsentiert, auch vier der für Picasso bedeutsamen Farben werden kommen in der Gestalt von Tänzerinnen einher: viel Raum für ganz persönliche Gedanken zu einem der größten Künstler des vorigen Jahrhunderts.
Das Publikum im ausverkauften Haus spendete auch in der zweiten Vorstellung sozusagen Premieren-Applaus – die Mannheimer Tanzfans sind ihrer Kompanie treu geblieben.
Noch keine Beiträge
basierend auf den Schlüsselwörtern
Bitte anmelden um Kommentare zu schreiben