Roter Vorhang, schwarzer Schnee
„Seasons in Dance“ im Tanzhaus des Mannheimer Nationaltheaters
„Don José“ von Stephan Thoss im Tanzhaus des Mannheimer Nationaltheaters
In der zweiten Spielzeit seit der renovierungsbedingten Schließung von Opern- und Schauspielhaus im Mannheimer Nationaltheater ist die Beschränkung auf alternative Spielstätten das neue Normal. Die Tanzsparte hat es vergleichsweise gut getroffen: Mit der kleinen Bühne im Mannheimer Tanzhaus – eigentlich das Probenquartier des Mannheimer Tanzensembles – verfügt der Bühnentanz über eine eigene Spielstätte. Die ist klein, niedrig und erlaubt keinerlei übliche Bühnentechnik mit Ausnahme von elementarer Beleuchtung. Die neue Beschränkung bietet dafür eine direkte Nähe zum Publikum, die Tanzchef Stephan Thoss geschickt ausspielt.
Weil er nicht mehr von einer spartenübergreifenden Disposition abhängig ist, kann er tanzen lassen, soviel er möchte – und das ist ziemlich viel: Die Zahl der angekündigten Premieren ist beeindruckend hoch, und seine Erfolgsstücke kann er quasi en suite auf den Spielplan stellen. Über mangelnde Auftrittsmöglichkeiten können sich die sechzehn Tänzer*innen nicht beklagen; auch im neuen abendfüllenden Stück von Stephan Thoss sind sie ausnahmslos involviert.
Carmen steht nicht mehr im Mittelpunkt
Der Titel „Don José“ bedient die rhetorische Form der Ellipse: Man betont den einen Brennpunkt. Dadurch rückt der andere, in diesem Fall „Carmen“, um so mehr ins Visier. Tatsächlich stellt Stephan Thoss hier zum ersten Mal in der langen Geschichte seiner Choreografien eine Männerfigur in den Vordergrund. Ansonsten reiht sich der neue Tanzabend nahtlos in die Reihe großer Handlungsballette ein, die Stephan Thoss in bereits neu interpretiert hat – für „Giselle M.“ wurde er 2007 mit dem Faustpreis ausgezeichnet.
Das Bühnenbild für „Don Jose“ besteht aus fünf hohen beweglichen dreieckigen Elementen, die mit unterschiedlichen Oberflächen-Seiten für Drinnen und Draußen und für unterschiedliche Stimmungen stehen können. Denn die Dramen spielen sich, wie immer bei Thoss, im Inneren der Figuren ab. So erzählt er statt einer wohlbekannten Handlung die Entwicklung eines fatalen Kontrollverlustes. Joseph Caldo in der Rolle des Don José wird sichtbar immer unsicherer, immer verwirrter, immer niedergedrückter und immer weniger Herr seiner selbst. Um dieses Ziel zu erreichen, hat Stephan Thoss die Gegenspieler gleich vervielfacht und demonstriert so die Macht der meinungsbildenden Peer Groups.
Ideen statt Figuren
Die attraktive Carmen (Paloma Galiana Moscardó) hat gleich sechs Doubles, die anfangs in knallroten Hosenanzügen wie eine Gruppe selbstbewusster Escort-Damen daherkommen. Escamillo, den Don José als Gegenspieler so sehr fürchtet, gibt es gleich viermal, dabei auch in weiblicher Variante.
So ist der Konkurrent für Don José genauso wenig zu fassen wie Carmen, die selbst zerrissen ist zwischen ihrer Zuneigung zum Liebhaber und dem unbedingten Freiheitswillen. Stephan Thoss, der längst seine eigene, sehr typische und hoch expressive Bewegungssprache kreiert hat, lässt nicht Figuren, sondern Ideen gegeneinander antreten: zum Beispiel eine positive und eine negative Kraft, die auf Don José einwirken, die ohnmächtige, mitleidenden Mutter und eine dämonische negative Macht der Liebe.
Greifbares Seelendrama
Wenn die Bewegungen zwischen Don José und Carmen förmlich einfrieren, der leidende Liebhaber immer mehr von negativen Kräften zu Boden gedrückt wird, ist das schreckliche Ende in Sichtweite. Zu hören sind an diesem Abend die eigens für den Tanz konzipierte „Carmen-Suite“ von Rodion Shchedrin und kurze Stücke weiterer Komponisten, bei denen Stephan Thoss sein kolossales Gespür für musikalische Stimmungen einmal mehr unter Beweis stellt. – Großer Beifall des Mannheimer Premierenpublikums für das aus nächster Nähe anzuschauende, quasi mit den Händen greifbare Seelendrama.
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