„Fire & Moon“ in Mannheim: „Moonlight innocence“ von Emma Evelein

„Fire & Moon“ in Mannheim: „Moonlight innocence“ von Emma Evelein

Kühl, kalt, heiß und heftig

„Fire & Moon“ mit fünf Uraufführungen im Nationaltheater Mannheim

In „Fire & Moon“ zeigen fünf Preisträger*innen choreografischer Wettbewerbe kurze neue Stücke mit der Mannheimer Tanzkompanie.

Mannheim, 23/06/2023

In der Mannheimer Tanzsparte gehört die letzte Premiere einer Spielzeit traditionell dem choreografischen Nachwuchs aus den eigenen Reihen. In diesem Jahr ist wegen der Schließung des Nationaltheaters alles anders. So hat Tanzdirektor Stephan Thoss für den Tanzabend „Fire & Moon“ Preisträger*innen choreografischer Wettbewerbe eingeladen, mit der Mannheimer Kompanie kurze neue Stücke für einen fünfteiligen Abend im Tanzhaus zu erarbeiten.

Für Věra Kvarčáková, die bis zur letzten Spielzeit in Mannheim getanzt hat, war die Arbeit noch fast ein Heimspiel. Folgerichtig hat sie zusammen mit ihrem früheren Tänzerkollegen Jérémy Galdeano die größte (zehnköpfige) Besetzung des Abends gewählt. Die intime Atmosphäre des Tanzhauses mit der direkten räumlichen Nähe des Publikums zur Bühne hat sie für das Stück „BLÍŽ“ (Nähe) inspiriert. So rennen die Tänzer*innen schon mal direkt auf die erste Zuschauerreihe zu, stoppen in letzter Sekunde und mustern das Publikum. Die Sache mit Nähe und Abstand ist bekanntlich nicht so einfach – auch in der choreografischen Umsetzung wird die Nähe schnell zum Körperknäuel. Trotz futuristischer schwarzer Unixsex-Uniformjacken sind auch in der Gruppe nicht alle gleich: Immer wieder wird ein Mitglied von vielen Händen gleichzeitig geschmeidig hoch über die Köpfe gehoben.

In einer fremden Welt spielt auch das Eingangsstück „Moonlight Innocence“, in dem die niederländische Nachwuchschoreografin Emma Evelein eine geschlossene virtuelle Welt auf die Tanzbühne zaubert. Wie animierte Schaufensterpuppen bewegen sich die drei Tänzer und die zierliche Schöne (Arianna di Francesco) in einer konsequent durchgehaltenen artifiziellen Bewegungssprache über die Bühne. Aber trotz der optischen Computerspiel-Anmutung (hautfarbene Trikots, gepuderte Haare) und der ruckartigen, roboterhaften Bewegungen stehen die Zeichen auf Vollmond: mit unschuldigen, zarten Begegnungen und sich anbahnenden tieferen Gefühlen.

Ganz von außen, mit kühler Distanz und spielerischem Witz blicken dagegen Selene Martello und Dario Wilmington – preisgekrönt beim Internationalen Choreografie-Wettbewerb in Hannover – auf ihr Thema. Das Objekt, das ihrem Stück den Titel („Those awake feeling nothing“) und die Bewegungsherausforderungen liefert, ist eine Tiefkühltruhe. Aus ihr quillt eine verblüffende Anzahl von Tänzerinnen und Tänzern. Vom leichtfüßigen, somnambulen Balancieren über den eleganten, ritualisierten Kopfüber-Fall in die geheimnisvolle Öffnung: Angst macht es nicht, das fiktionale Spiel mit dem Kältetod.

Geprägt wird der Abend dennoch von zwei überragenden Männer-Duos. Der Italiener Luca Signoretti, vor allem in der Schweiz tätig, lernt in der Choreografie „The Other Me“ mühsam, sich selbst anzunehmen. Mit Lorenzo Angelini und Joris Bergmans sind es rein optisch sehr unterschiedliche Vertreter des jeweiligen Alter Egos. Sie liegen miteinander in einem kräfteraubenden, temporeichen und emotional aufreibenden Kampf und müssen sich doch versöhnen lernen – eine intensive Beziehungskiste.

Den heimlichen Höhepunkt des Abends steuerte der wohl erfahrenste Choreograf dieses Abends, der aus China stammende Menghan Lou, bei. Seine Recherchen zum Thema Zwangsstörung (Obsessive-Compulsive Disorder OCD) münden in einen durchlaufenden verbalen Beschwichtigungsversuch. Die Stimme der beruhigenden Vernunft wird tänzerisch überzeugend vertreten durch Alberto Galindo. Lorenzo Terzo sind dagegen mit aufkommender Panik alltägliche Gewissheiten verlorengegangen. Selbst auf allen Vieren findet er kein Gleichgewicht, weil die Hände nicht mehr wissen, wie sie den Körper stützen können: irrationale Verzweiflung in zwingender Körpersprache. Offen bleibt, ob man Zeuge einer Tanzprobe oder eines Beziehungsdramas wird – aber die innere Not beider Beteiligten ist sensibel choreografiert und überzeugend umgesetzt. Wenn die Beiden in den sicheren Normen eines konventionellen Paartanzes einen Moment des inneren Friedens finden, atmet auch das Publikum hörbar auf.

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