Meryl Tankards Erben
Australische Produktionen „S“ und „Blue Love“ begeistern beim internationalen Tanzfestival „Colours“ im Theaterhaus Stuttgart
In der diesjährigen Gastspielreihe zum Ende der Spielzeit verwandelt sich das Staatstheater Darmstadt zur Bühne für zeitgenössische Zirkuskunst. Zwei australische Compagnien und einige regionale Initiativen wollen den hohen Anspruch realisieren: „Die Grenzen zwischen Tanz, Theater, Musik und Akrobatik neu (!) definieren.“ Da lohnt sich ein Blick auf die Choreografie „En Masse“ des Circa Ensembles aus Brisbane, das mit seinen Mitteln unter der Regie von Yaron Lifschitz erst Schuberts „Winterreise“ und Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ präsentiert. Zwei Werke, an denen sich seit Jahrzehnten die Tanzszene misst.
Elektronisch collagierte „Winterreise“ und „Sacre“ als Klavierduett
Neun Gestalten liegen vor dem geschlossenen Bühnenvorhang. Schuberts Wanderer aus der „Winterreise“ stimmt ein unverständliches Lied an - aber nicht das gewohnte „Fremd bin ich eingezogen...“ Langsam kriechen und schlängeln sich die Liegenden hinter den Vorhang, nur eine Tänzerin umgarnt, bedrängt, umschlingt den Tenor.
Knarzen. Geknatter. Dröhnen – eine Kakophonie elektronischer Klänge. Der Vorhang hebt sich, die Figuren sind in ein durchsichtiges Plastikzelt eingeschlossen. Wieder erklingt ein akustisch nicht zu verstehendes Lied aus Schuberts „Winterreise“. Im Zelt winden sich Menschen ineinander und übereinander. Rotten sich zusammen. Stemmen einander waghalsig hoch. Recken sich nach oben. Paare umklammern sich. Vielleicht ist es die Gesellschaft, von der sich der Wanderer abkehrt – oder seine eigenen Erinnerungen?
Nach einem weiteren elektronischen Einschub ertönen erneut Schubert-Klänge. Auf der nun leeren Bühne läuft ein Einzelner über die zusammen gerotteten Körper. Dann ringen viele plötzlich athletisch miteinander. Drei Figuren stehen halsbrecherisch aufeinander. Mühsam halten sie das Gleichgewicht. Eine tappt auf Spitzen mit grotesken Bewegungen durchs Bild. Dann hören wir den „Leiermann“, das Schlusslied. Doch die Musik wechselt weiter zwischen den Schubertklängen und elektronischen Tönen. Zum eigentlichen Anfangslied „Fremd bin ich eingezogen...“ kämpfen Paare wild und ungezähmt miteinander. Doch das Ende lässt immer noch auf sich warten.
In den 12 Szenen steht Akrobatik pur im Wechsel mit bewegenden Bildern einsamer Menschen, Annäherungen von Paaren, Ausgrenzungen oder Integration durch die Gemeinschaft. Die Company zeigt eine zerrupfte Version der „Winterreise“. Die traditionelle musikalische Version von Schubert in einer fragmentarischen Collage von Szenen und ständigem Wechsel zwischen klassischer und elektronischer Musik. Sie oszilliert zwischen akrobatisch verstärkten Emotionen, purer Athletik und gelegentlichen Turnübungen mit Purzelbäumen. Doch es gibt viele berührende Momente, in denen es den Zirkusleuten gelingt, das perfekt Akrobatische zu poetisieren.
Ähnlich ist es nach der Pause mit dem „Sacre“, das intensiv und ungebändigt auf lediglich zwei Flügeln in Strawinskys reduzierter, eigenen Version von 1913 live gespielt wird. Die Bühne ist mit zwei Instrumenten und streng verteilten Tanzenden klar strukturiert, eine Tänzerin schiebt sich im Lichtkegel nach vorne. Sie ist vielleicht das erste ausgewählte Frühlingsopfer. Ständig wechseln die Bilder: Gestalten im Kreis und ausgewählte mögliche Opfer. Paare und Dreiergruppen klammern sich aneinander, bilden kühne Figuren. Einzelne werden in die Gruppe geworfen. Manche stemmen sich nach oben, als wollten sie entkommen. Die oft ekstatischen Szenen sind fließend miteinander verbunden, glaubwürdig und sehr tänzerisch. Das weißgekleidete Opfer zum Schluss tanzt, krümmt und quält sich dramatisch.
Ringen um Gleichgewicht
Besonders berührend sind in beiden Werken die einsamen Figuren, die kühn zu Boden stürzen, sich in sich selbst verwinden und aus ihren eigenen Verknotungen lösen. Oder die Paare, die sich stürmisch herumschleudern, hochwerfen, abstoßen – so wird ihre wechselseitige Abhängigkeit unmittelbar körperlich erfahrbar. Eine Akteurin die mehrere Männer fortschleppt – ein Bild, das zugleich von Macht und Anstrengung erzählt. Wenn drei Menschen aufeinander balancieren, ist das Ringen um Gleichgewicht spürbar. Manchmal lässt sich jemand vertrauensvoll aus großer Höhe fallen und wird vom Ensemble aufgefangen. Das sind Momente, die für Tänzerinnen und Tänzer im zeitgenössischen Tanz oder modernen Ballett (noch) nicht realisierbar sind.
Dabei zeigen die Zirkusleute keine Spur von Pantomime, tun nicht „als ob“ – sondern schaffen die Gratwanderung zwischen Tanz, Akrobatik und performativen Aktionen. Die tänzerischen Möglichkeiten werden beträchtlich erweitert, indem der Ausdruck durch radikale Bewegungen verstärkt wird. Aber die Erneuerung von Tanz, Theater, Musik und Akrobatik wird hier nicht „neu“ geleistet, sondern ist ein Prozess, der schon seit langer Zeit andauert. Die hohe Qualität anderer Interpretationen erreicht das Ensemble bei weitem nicht. Aber sehenswert ist dieser zeitgenössische Zirkus allemal!
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