East meets West

„Sutra“ von Sidi Larbi Cherkaoui eröffnet die Kampnagel-Spielzeit 2009/10

Hamburg, 02/10/2009

Das Projekt „Sutra“ habe sehr langsam und zögerlich begonnen, mehrere Jahre seien vergangen, bis alles für die Bühne vorzeigbar war, erzählt Ali Thabet, Assistent des Tänzers und Choreografen Sidi Larbi Cherkaoui, im Publikumsgespräch anlässlich des Gastspiels auf Kampnagel am 1. Oktober. Der Choreograf, Sohn einer flämischen Mutter und eines marokkanischen Vaters, hatte sich – fasziniert von der Kung-Fu-Bewegungskunst der Shaolin-Mönche – drei Monate lang in deren Tempel in der chinesischen Provinz Henan aufgehalten und ihr Leben beobachtet. Ganz langsam kam er mit den Mönchen in Kontakt, fing mehr spielerisch als ernsthaft an, mit ihnen gemeinsam zu experimentieren. Die Kombination von Kung Fu und Musik – eigens dafür kreiert vom polnischen Pianisten Szymon Brzóska – sei für sie allerdings neu gewesen, erzählen die 20-Jährigen jungen Mönche mit Hilfe der chinesischen Übersetzerin, der meditative Charakter der Klänge jedoch habe ihnen den Zugang erleichtert. Beide Seiten entdeckten dabei Verwandtes: Die Kampfkunst und moderner Tanz hätten in Körperlichkeit, Ästhetik und Bewegung so manches gemeinsam, sagt Ali Thabet, und die Mönche lächeln dazu. Sie seien neugierig gewesen auf das, was die Europäer ihnen bieten konnten – und offen dafür. Klosterleben, das ist in China so ganz anders als in Europa: kein Rückzug in die Einsiedelei, keine ausschließliche Kontemplation – sondern Spiritualität mitten im Leben. „Wir haben Internet und Handys, wir haben offene Türen“, sagt einer der Mönche. „Mönch sein kann man überall. Und Buddhismus ist das, was ich täglich lebe.“ Auch der Tanz kann dazu gehören, und so kommen die Mönche gar nicht auf Idee, dass es zwei Rollen sein könnten, die sie da in sich vereinen – Tänzer sein und Mönch. Wieso soll das nicht zusammengehen? Das Leben ist bunt, und jeder sein eigener Buddha!

Es ist diese unverkrampfte, offene Einstellung, die das ganze Stück trägt und belebt. Die fast vergessen lässt, wie akkurat alles durchstrukturiert ist, so spontan und fantasievoll kommt alles daher. Sidi Larbi Cherkaoui hat mit „Sutra“ ein Ost-West-Gebet choreografiert, das auf den Zuschauer einen magischen Reiz ausübt und ebenso spielerisch ist wie ernst, aggressiv wie sanft, traditionell wie modern. Im Mittelpunkt steht die Annäherung eines Europäers an das Asiatische (eine Rolle, die Cherkaoui und Ali Thabet im Wechsel verkörpern, in Hamburg ist es letzterer). Vorsichtig und scheu tastet er sich an das Fremde heran, Spiegel wohl des Prozesses, den Cherkaoui während der Entstehung dieses Stücks selbst erlebt hat. Er wird konfrontiert mit den Traditionen des Kung-Fu und dessen virtuoser Körperbeherrschung, ein 12-jähriger Mönch (wunderbar verspielt und ernst zugleich: Dong-Dong) fungiert dabei als Bindeglied zwischen Alt und Neu, Tierwelt und Menschen (z.B. indem er ein Äffchen nachahmt), Asien und Europa, Gestern und Heute. Zum Schluss ist der Europäer assimiliert in das Mantra der Weisheit und der Bewegung, eins geworden mit dem Fluss des Seins. Im Prozess dahin lernen aber auch die Mönche die andere, die westliche Seite kennen, indem sie die grauen, bequemen Kutten gegen dunkle Anzüge tauschen – um schließlich doch wieder zu den viel bequemeren Beinkleidern zurückzukehren.

Die 16 rund 20-jährigen Chinesen zeigen dabei auf atemberaubende Art und Weise ihre dynamische Körperbeherrschung zu der wunderbar einfühlsamen Musik, die live hinter einem transparenten Vorhang hinter der Bühne gespielt wird. Eine Mischung aus Kung-Fu, Tai Chi und Chi Gong – maskulin, kraftvoll, energetisch aufgeladen, und doch von einer starken inneren Gelassenheit, angesichts derer jede Aggression lammfromm wird, Wut erstirbt und das Einssein mit dem Kosmos Raum greift. Das faszinierendste Element in diesem Stück sind jedoch neben den Menschen schlichte Kisten, 20 aus Holz, eine aus Metall – eine Idee des britischen Künstlers Antony Gormley. Sargähnlich alle, genau so groß, dass ein Erwachsener sich darin ausstrecken kann. Wie Bauklötze schieben die Mönche sie in verschiedensten Anordnungen über die Bühne, bauen Mauern und Brücken und Verschläge, kippen sie übereinander, verstecken sich darin oder krabbeln daraus hervor, sitzen oder stehen darauf, hochkant und quer, balancieren halsbrecherischen Übungen auf den schmalen Kanten – ein Überraschungsmoment jagt den nächsten. Am Anfang hätten die Mönche einfach mit Miniatur-Modellen dieser Kisten gespielt, mit denen Gormley nach China gekommen war, erzählt Ali Thabet. Im Stück spielen der Europäer und Dong-Dong en miniature nach, was dann mit den großen Kisten auf der Bühne passiert – auch das ein Spiegel der Entstehungsgeschichte, denn die spielfreudigen Mönche probierten aus, was man alles damit machen kann und entdeckten zahlreiche Variationen, eine abenteuerlicher als die nächste – Inspiration pur für den europäischen Choreografen. Cherkaoui nutzte all die unmöglichen und möglichen Kombinationen, auf die die Mönche kamen, für das großartige Puzzle seiner feinstens durchdachten Choreografie. Wer immer Gelegenheit hat, dieses Stück zu sehen: hingehen! Es gehört es mit zum Besten, was moderner Tanz heute zu bieten hat, und es baut auf ganz neue Art eine Brücke des Verständnisses zwischen den Ländern der aufgehenden und der untergehenden Sonne.

Weitere Vorstellungen in Hamburg am 2. und 3.10. in der Kampnagelfabrik um jeweils 20 Uhr.

www.kampnagel.de

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